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„Aus kollektivem Gedächtnis total gelöscht“: 50.000 starben in BRD an Pandemie - die Politiker reagierten ganz anders

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Nicht nur Kolumnist Jan Fleischhauer blickt zurück auf eine Pandemie, die Deutschland von 1968 bis 1970 beschäftigte.
Nicht nur Kolumnist Jan Fleischhauer blickt zurück auf eine Pandemie, die Deutschland von 1968 bis 1970 beschäftigte. © dpa/Marijan Murat, dpa/Horst Galuschka

Deutschland befindet sich im Frühjahr 2020 in einer außergewöhnlichen Lage. Tatsächlich aber erlebte die Bundesrepublik bereits eine ähnliche Pandemie. Nur reagierte man damals ganz anders.

Haben Sie schon mal von der Hongkong-Grippe gehört? Im Winterhalbjahr 1969/70 erreichte die Grippepandemie, die nach der damaligen britischen Kronkolonie benannt wurde, in der Bundesrepublik ihren Höhepunkt. Es gibt keine genauen Statistiken, aber es wird von rund 40.000 bis 50.000 Toten im Gebiet der BRD sowie weiteren Tausenden Opfern in der DDR ausgegangen. Dass diese Pandemie fast in Vergessenheit geraten ist, obwohl es Parallelen zum derzeitigen Coronavirus-Ausbruch* gibt, liegt wohl auch an der damaligen Reaktion der Politik. 

Video: Die Spanische Grippe - die ganz plötzlich verschwand

Anders als beim Corona-Ausbruch heute: Damals reagierten die Politiker „wahnsinnig kühl“

Die Autoritäten seien „wahnsinnig kühl“ mit dem Ausbruch umgegangen, wundert sich Kolumnist Jan Fleischhauer im  Focus-Podcast „The Curve“. Die Pandemie sei fatalistisch als ein Naturereignis, angesehen und „aus unserem kollektiven Gedächtnis total gelöscht“ worden. 

Sein Co-Podcaster Jakob Augstein hat dafür auch eine Erklärung: „Die Zeit vor dem Internet und die nach dem Internet lassen sich nicht mehr vergleichen“, die Öffentlichkeit habe sich massiv verändert. Zudem habe sich in den vergangenen fast 50 Jahren eine ganz andere „hedonistische Mobilitätsgesellschaft“ herausgebildet. Es sei für Millionen Deutsche normal, ins Ausland zu verreisen. Das Leben eines Durchschnittsdeutschen Ende der 1960er-Jahre sah anders aus als heute. Somit seien die Deutschen etwa in Hinblick auf ihre Urlaubsplanungen derzeit „de facto anders eingeschränkt in ihrer Freiheit“ als damals. 

Lesen Sie auch: Berliner Corona-Intensivpflegerin rüttelt uns auf: „Ich heule mittlerweile jeden Tag“

Hongkong-Grippe: Bestattungsnotstand in Berlin - Betriebe müssen Produktion herunterfahren

Der Spiegel berichtet in seiner aktuellen Ausgabe ebenfalls über die schwerste Grippe, die Deutschland in der Nachkriegszeit traf. Die Hongkong-Grippe mit der Bezeichnung A1/1968 H3N2 sorgte dafür, dass im Winter 1969/70 Schulen geschlossen wurden und in manchen Wirtschaftsbereichen die Produktion heruntergefahren wurde - jedoch zumeist nur als Reaktion auf einen Ausbruch in dem Betrieb oder in einer Schule. Nicht präventiv aus Gesundheitsvorsorge. 

Die Zustände in den Kliniken seien teilweise verheerend gewesen. Es mussten Notbetten aufgestellt werden, teilweise lagen Erkranke auf Fluren und in Badezimmern. In West-Berlin herrschte ein Bestattungsnotstand, berichtet der Spiegel. Särge mussten in Gewächshäusern des Gartenbauamts Wedding oder in der Wilmersdorfer Bezirksgärtnerei gelagert werden. 

Hongkong-Grippe in München: Kliniken „randvoll belegt“

Auch in München seien alle Kliniken „randvoll belegt“, meldete das Münchner Krankenhausreferat damals. Rund 30 Prozent der Schwestern erkrankten und fielen aus. Zustände, die an gegenwärtige Bilder aus italienischen Kliniken erinnern - und Deutschland ohne Shutdown möglicherweise auch beim Coronavirus gedroht hätten.

Die Apothekenhelferin Lili Pflanz erinnert sich, dass es an Medikamenten fehlte, schreibt die Abendzeitung. "Unsere Lager waren leer, die des Großhandels auch". Die damals 21-Jährige musste nach Dienstschluss noch ins Münchner Umland fahren, um dringend benötigte Antibiotika, Hustensäfte und fiebersenkende Mittel zu besorgen.

Politiker reagierten empathielos auf die Hongkong-Grippe - man setzte auf Herdenimmunität

Wissenschafts- und Medizinhistoriker wie David Rengeling, Malte Thießen oder Wilfried Witte recherchierten, wie die Bundesrepublik mit dem damaligen Ausbruch umging. Ihr Ergebnis ist erschütternd: Politiker und Behörden hätten mit einer erstaunlichen Empathielosigkeit reagiert.

Mehr noch: Bereits rund zehn Jahre zuvor, im Jahr 1957, wütete die Asiatische Grippe A/Singapore/1/57 in Deutschland. Obwohl auch daran etwa 30.000 Menschen in der BRD starben, war das Gesundheitssystem nur schlecht auf eine neue Pandemie vorbereitet. Thießen und Rengeling beurteilen das sogar als "Fahrlässigkeit", die vielen Tausenden das Leben kostete.

Damals setzte die Politik auf Herdenimmunität*. Es gab keinen Shutdown des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens*. Ausgestanden war die Hongkong Grippe in Deutschland erst im Winter 1970. Bis dahin hatte eine ausreichend große Bevölkerungszahl mittlerweile Antikörper entwickelt und war immun. Die Ausbreitung des Virus wurde gestoppt. 

Heute dagegen bemühen sich die Bundesregierung und die Landesregierungen darum, die Kurve der Ansteckungsrate möglichst niedrig zu halten, um die Zeit zu überbrücken, bis ein wirksamer Impfstoff oder ein Medikament entwickelt wird. 

mag

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