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Experte stellt klar: „Die Kriminalstatistik ist verzerrt und manipulierbar“

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Kriminologe Martin Thüne über die Schwächen der Polizeilichen Kriminalstatistik und die Frage, ob Deutschland unsicherer wird. Ein Interview von Pitt von Bebenburg.

Herr Thüne, die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) weist für 2023 deutlich mehr Straftaten aus als für die Jahre davor. Ist Deutschland unsicherer geworden?

Das kann man mit alleinigem Blick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik überhaupt nicht schlussfolgern, denn die PKS eignet sich nicht dazu, allein auf ihrer Grundlage solche Aussagen zu tätigen. Die PKS ist aus mehrerlei Gründen eine problematische Datengrundlage. Auf dieser Basis zu sagen, Deutschland sei unsicher geworden, halte ich für Unsinn.

Die größte Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte richtet sich darauf, dass der Anteil von Tatverdächtigen mit ausländischem Pass in der PKS gestiegen ist und nun mehr als 40 Prozent beträgt. Was sagt das aus?

Das hat wenig zu bedeuten, weil die PKS an dieser Stelle systematisch verzerrt ist und es aus der Logik der PKS heraus ganz normal ist, dass ausländische Tatverdächtige in dieser Statistik überrepräsentiert sind. Das kann bei genauer Betrachtung faktisch gar nicht anders sein.

Kriminalstatistik in Deutschland: „Kausalschluss ist Unsinn“

Warum?

Das liegt unter anderem an den Erfassungsmodalitäten der PKS. Einer von mehreren Punkten ist, dass zumindest in der öffentlichen und politischen Debatte die Zahl von ausländischen Tatverdächtigen regelmäßig ins Verhältnis gesetzt wird zur ausländischen Wohnbevölkerung – also zum Beispiel 40 Prozent an den Tatverdächtigen bei nur 15 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Da werden aber viele Taten von Tatverdächtigen erfasst, die gar nicht in Deutschland leben. Das sind reisende Tätergruppen, das sind Touristen, das sind Stationierungskräfte, das sind Pendler. Deswegen wird der Anteil an den Tätern immer größer sein als der Anteil an der Wohnbevölkerung. Darauf weisen übrigens auch die Polizeien selbst hin – das wird nur leider oft ignoriert.

Nun gibt es aufgrund der Zahlen der PKS Rufe nach Migrationsbegrenzung. Macht das Sinn?

Dieser Kausalschluss ist meiner Ansicht nach Unsinn. Die PKS ist im Bereich Migration und Kriminalität noch einmal sehr viel verzerrter als in anderen Deliktbereichen ohnehin schon.

Martin Thüne lehrt Kriminologie am Fachbereich Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung des Landes Schleswig-Holstein. Davor war er an der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und im Thüringer Innenministerium tätig. Als Kriminalhauptkommissar a.D. hat er selbst praktische Polizeierfahrung. FR
Martin Thüne lehrt Kriminologie am Fachbereich Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung des Landes Schleswig-Holstein. Davor war er an der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und im Thüringer Innenministerium tätig. Als Kriminalhauptkommissar a.D. hat er selbst praktische Polizeierfahrung. FR © privat

Die PKS signalisiert, dass die Gewaltbereitschaft junger Leute gestiegen sei. Können Sie das aus der Kriminalitätsforschung bestätigen?

In Kombination mit anderen, weitergehenden Erhebungen deuten die steigenden Zahlen darauf hin , dass wir die Talsohle durchschritten haben könnten. Wir hatten viele Jahre lang, was erfreulich war, einen Rückgang bei Gewaltkriminalität insgesamt und auch einen Rückgang bei jugendlichen Tätern. Es ist insofern absehbar, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem die Kurve wieder ansteigt. Aber dieser Anstieg scheint so zu sein, dass wir immer noch in einem Korridor sind, den wir von früher kannten.

Es gab eine Zeit, in der die Zahlen ähnlich hoch waren?

Solche Langfristvergleiche sind schwierig, weil die Erfassungskriterien erheblich geändert wurden. Was wir trotzdem sagen können, mit Blick auch auf Dunkelfeldstudien: In den 90er Jahren und auch in den Nullerjahren hatten wir teils eine erhebliche Belastung, die sich danach abgeschwächt hat. Wir hatten dann mehrere Jahre, wo wir sehr gut gefahren sind. Möglicherweise sind wir jetzt an einem Punkt, wo wir wieder einen Anstieg von den vergleichsweise niedrigen Zahlen haben. Wenn man über mehrere Jahre oder besser Jahrzehnte eine Linie zieht, sieht man aber im Rückblick oft, dass sich das einpendelt. Deswegen warne ich davor, alarmistisch zu reagieren, wenn die PKS in kurzen Betrachtungszeiträumen mal steigende oder mal sinkende Zahlen ausweist.

Schere zwischen Arm und Reich als Grund für steigende Kriminalstatistik

Was könnte der Grund für den Anstieg sein?

Wir haben besondere Situationen gehabt, Stichwort Corona-Pandemie, und wir leben bis heute in verstärkten Krisensituationen, die auch wieder mit Flucht und Migration zu tun haben, Stichwort Ukraine-Krieg, aber auch ein anhaltendes Auseinanderdriften von Arm und Reich in unserem Land.

Was gibt es zu tun, etwa im präventiven Bereich?

Wir wissen seit vielen Jahren: Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik. Das ist etwas, was zu oft unter die Räder kommt. In den heutigen Debatten geht es wieder um Repression, etwa darum, die Grenze zur Strafmündigkeit abzusenken oder generell die Strafmaße zu erhöhen. Wir wissen aus jahrzehntelanger Forschung, dass Repression präventiv nur sehr eingeschränkt wirkt und manchmal sogar Probleme noch verschärft. Viel wichtiger wäre es, in eine gute Sozialpolitik zu investieren und in eine kluge Integrationspolitik, wenn wir bei Migration und Kriminalität sind. Wenn wir über Jugendkriminalität reden, geht es darum, Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche zu verstetigen und verstärken, ihre finanzielle Situation zu verbessern. Jeder Euro, den man in diese weichen Maßnahmen investiert, der rentiert sich. Was hatten wir aber für Diskussionen in den letzten Wochen und Monaten? Da wird gegen die Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld Stimmung gemacht. Das Gegenteil wäre nötig.

Warum ist die Polizeiliche Kriminalstatistik aus Ihrer Sicht problematisch?

Die PKS ist hochgradig kompliziert, und sie wird Jahr für Jahr komplizierter, weil die Erfassungsmodalitäten umgestellt werden. Man muss quasi Kriminologie studiert haben, um mit der PKS umgehen zu können. Sie hat außerdem systematische Probleme. Ein Leitsatz lautet: Die PKS ist unvollständig, verzerrt, potenziell manipulierbar und ungewichtet. Die PKS ist unvollständig, weil sie die tatsächliche Kriminalität zuweilen nicht ansatzweise abbildet. Sie ist verzerrt, das heißt, bestimmte Phänomene werden stärker abgebildet als andere. Sie ist potenziell manipulierbar, das heißt, man kann durch bestimmte polizeiliche Maßnahmen die Fallzahlen aktiv beeinflussen und man kann Aufklärungsquoten aktiv beeinflussen und damit ein Bild suggerieren, das mit der Realität nichts zu tun hat.

Bei der Fahndung in Düsseldorf (Archivbild).
Bei der Fahndung in Düsseldorf (Archivbild). © IMAGO/Michael Gstettenbauer

Kriminalstatistik „radikal in Frage stellen“

Muss die Kriminalstatistik reformiert werden?

Ich würde stark dafür plädieren, dieses PKS-System radikal in Frage zu stellen, sich zusammenzusetzen und etwas Neues zu entwickeln. Vorschläge dazu gibt es seit Jahrzehnten. Wir sehen ja, dass sie in der Öffentlichkeit polarisiert und Maßnahmen aus der PKS abgeleitet werden, die auf dieser Datengrundlage besser nicht abgeleitet werden sollten.

Welche Schritte würden Sie empfehlen?

Ein erster Schritt wäre einigermaßen einfach. Man könnte die PKS, die nur das Hellfeld abbildet, systematisch und regelmäßig anreichern mit Dunkelfeldbefragungen, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Zweitens: Die Polizei erfasst unheimlich viel, aber viele Verfahren werden eingestellt. Das zeigt die PKS aber nicht. Daher teile ich die Forderung nach einer Verlaufsstatistik: dass jede Straftat, die bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft angezeigt wird, eine Identifizierungsnummer bekommt und bis zum Ende des Verfahrens erfasst wird. Außerdem sollte man den Namen dieser Statistik ändern, um keine falschen Erwartungen zu wecken. In anderen Ländern heißt diese Erhebung „Polizeiliche Anzeigenstatistik“. Ich würde es noch deutlicher machen und sagen: Es ist eine „polizeiliche Arbeitsstatistik“. Das wäre zumindest näher an der Realität als das Bild, das der Begriff „Kriminalstatistik“ suggeriert.

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