Die EU öffnet der Todesstrafe eine Hintertüre

3.9.2009, 00:00 Uhr

NZ: In Artikel 102 des deutschen Grundgesetzes steht: «Die Todesstrafe ist abgeschafft». Was steht im Lissabon-Vertrag?

Schachtschneider: Der Lissabon-Vertrag selbst ist nicht das alleinige Problem. Problematisch ist die dazugehörige Grundrechtecharta, die mit endgültiger Ratifizierung des Vertrags rechtsverbindlich würde. Diese ermöglicht in den dort aufgenommenen Erläuterungen und deren Negativdefinitionen ausdrücklich die Wiedereinführung der Todesstrafe im Kriegsfall oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr. Daneben erlaubt sie auch die Tötung von Menschen, um einen Aufstand oder einen Aufruhr niederzuschlagen.

NZ: Was genau steht an der entsprechenden Stelle der Grundrechtscharta?

Schachtschneider: Ich sollte vorausschicken, dass in Artikel 2 Absatz 2 zwar die Verurteilung der Todesstrafe und das Verbot der Hinrichtung geregelt sind. Allerdings gibt es nun eine in das Vertragswerk von Lissabon aufgenommene Erklärung zu diesem Artikel, die aus der Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 stammt. Dort heißt es, dass eine Tötung unter anderem nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet wird, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die erforderlich ist, um jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen oder einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen. In einem zugehörigen Protokoll steht zudem, dass ein Staat in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen kann, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden. An einer Stelle ist ausdrücklich davon die Rede, dass die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst wurden, von

den Gerichten der EU und der Mitgliedsstaaten gebührend zu berücksichtigen sind. Es gibt noch zwei weitere Stellen in den Regelwerken, die das unterstützen.

NZ: Das alles klingt ungeheuerlich. Warum hat das in der öffentlichen Diskussion in Deutschland keine Rolle gespielt – ist es zu unbedeutsam, weil eben doch nur reine Theorie?

Schachtscheider: Nein, keineswegs. Man hält es für bedeutsam, aber die Regierungen haben alles vermieden, um das in die Öffentlichkeit zu bringen. Es handelt sich um einen ganz prekären Punkt, der natürlich in der Kommentierung des Lissabon-Vertrags enthalten ist. Gerne wird auf das 13. Zusatzprotokoll zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte verwiesen. Darin wird gesagt, dass die Todesstrafe in allen Fällen abgeschafft sein soll. Nur: Diese Zusatzerklärung gilt nicht in allen EU-Mitgliedsstaaten, weil sie vier Länder nicht ratifiziert haben. Außerdem macht die sehr versteckte Verweisrungstechnik des Vertrages von Lissabon deutlich, dass dieses Zusatzprotokoll nicht gelten soll. Man muss es insgesamt leider so sagen: Die kritischen Passagen sind nicht aus Versehen sehr versteckt.

NZ: Was wäre denn ein Aufruhr oder Aufstand – würden da auch die Demonstrationen zum 1. Mai in Berlin-Kreuzberg darunterfallen?

Schachtschneider: Die Montagsdemonstrationen in Leipzig wären in diese Kategorie gefallen. In Berlin, Hamburg und Köln sieht man bereits jetzt, dass es Verhältnisse gibt, die hart an der Grenze von Unruhen sind und die man als Aufruhr bezeichnen müsste. Im Augenblick würde glücklicherweise niemand auf die Idee kommen, EU-Polizisten auf Randalierer schießen zu lassen. Aber es ist ja nicht ganz auszuschließen, dass im Laufe der Zeit die sozialen Spannungen noch weiter steigen und die Verhältnisse unruhiger werden. Wenn es noch krisenhafter wird, gar bürgerkriegsähnlich – was ich nicht hoffe – kämen solche Möglichkeiten zum Tragen. Der Lissabon-Vertrag ist ja gerade so gefasst, dass seine Ermächtigungen es auf lange Sicht möglich machen, die polizeiliche Verantwortung weitgehend in die Hand der EU zu verlagern.

NZ: Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit Polizisten auf Randalierer schießen dürften?

Schachtschneider: Die Regelungen müssten von der EU erfolgen, nur dann sind die europäischen Grundrechte maßgeblich. Deutsche Organe hätten die europäischen Regelung anzuwenden.

NZ: Wie sieht es mit der Todesstrafe bei Kriegen und Kriegsgefahr aus?

Schachtschneider: Auch hierfür wäre die Voraussetzung ein Rechtsakt der EU. Der Ministerrat ist ermächtigt, Bestimmungen über die Durchführung von Missionen zu erlassen. Missionen sind Kriege. Die sogenannten Friedenseinsätze, der Kampf gegen den Terror sind schöne Formulierungen für das Recht zum Krieg, für Kriegseinsätze. Die Durchführung für solche Zukunfts-Einsätze, die von der Union initiiert sind – der momentane Afghanistan-Einsatz ist hingegen von den Vereinten Nationen initiiert – trifft der Rat der Minister. Wenn die Bundeswehr eingesetzt werden soll, muss der Bundestag zustimmen. In den Durchführungsbestimmungen ist alles regelbar, was dem Erfolg militärischer Maßnahmen dient.

NZ: Wenn man die Todesstrafe im Krieg einführen würde, gegen wen könnte sie verhängt werden?

Schachtschneider: Gegen Partisanen, Terroristen, vielleicht auch gegen Soldaten, die sabotieren oder ihre Pflichten nicht erfüllen.

NZ: Hat Deutschland jetzt noch eine Möglichkeit, gegenzusteuern?

Schachtschneider: Das ist sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Das rechtstechnische Problem ist, dass die Abschaffung der Todesstrafe zwar Teil des Grundgesetzes, aber kein Grundrecht ist. Die Todesstrafe gibt es nun einmal nicht nur in Diktaturen, sondern auch in einer der führenden Demokratien der Welt. Eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Ermöglichung der Todesstrafe sehe ich nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist in meiner Verfassungsbeschwerde gegen den Lissabon-Vertrag nicht auf diesen Punkt eingegangen.

NZ: Aber es gibt andere Wege?

Schachtschneider: Es ist eine politische Frage, die politisch entschieden werden müsste. Bundestag und Bundesrat könnten den völkerrechtlichen Weg beschreiten – und einen sogenannten Vorbehalt einbringen. Sie müssten erklären, dass die Erläuterungen zu Artikel 2 der Grundrechtecharta für Deutschland keine Wirkung entfalten.

NZ: Dann würde die Regelung aber nur in Deutschland ausgeschlossen, und die einzelnen Mitgliedsländer könnten Land für Land nachziehen...

Schachtschneider: So wäre es denkbar. Aber noch besser wäre es, den Vertrag von Lissabon zu ändern. Deutschland könnte dafür die Initiative übernehmen.

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