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Politik > War der Lockdown doch verfassungswidrig?

Kritik an Inzidenz-Gläubigkeit der Bundesregierung - War der Lockdown verfassungswidrig?

Artikel vom

Lange rechtfertigte die Bundesregierung mit Grenzwerten bei den Inzidenzen ihre rigide Corona-Politik bis zu Ausgangssperren. Doch nun rückt Berlin allmählich davon ab. Der Wissenschaftler Matthias Schrappe hat jetzt ein Gutachten vorgelegt, nachdem der Inzidenzwert allein untauglich für die Rechtfertigung von Lockdowns sei. Damit wären die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, insbesondere die "Bundesnotbremse" nicht verfassungsgemäß.

Lockdown in Deutschland, Quelle: Shutterstock
Lockdown in Deutschland, Quelle: Shutterstock

Merkwürdig ist, dass trotz steigender Impfquote aktuell wieder die Inzidenzwerte ansteigen. Doch nun soll die Inzidenz, wenn es um Anti-Corona-Maßnahmen geht, plötzlich keine Rolle mehr spielen. Berlin macht eine Rolle rückwärts – zumindest bei den Inzidenzen. Matthias Schrappe hat jetzt ein Gutachten vorgelegt, nachdem der Inzidenzwert allein untauglich für die Rechtfertigung von Lockdowns sei.

Gegen die „Bundesnotbremse“ im Frühjahr 2021 liegen mehrere Eilanträge vor. Doch die dafür zuständige Kammer hatte nicht reagiert. Dennoch lässt diese Ablehnung von Eilanträgen nicht um Umkehrschluss zu, dass die „Bundesnotbremse“ verfassungsgemäß war.

Niko Härting, ein Berliner Rechtsanwalt und Datenschutz-Experte, vertritt drei Beschwerdeführer, deren Verfassungsbeschwerde gegen die Ausgangssperren (BVR 781/21) zwar im Eilverfahren ebenfalls abgelehnt wurde, aber in der Hauptsache im Spätherbst entschieden werden könnte. „Sollte das Gericht zu der Auffassung kommen, dass die Ausgangssperren nicht verhältnismäßig waren, hätte die Bundesregierung letztlich die Grundrechte von Millionen Bürgern verletzt“; schreibt das Nachrichtenmagazin „Focus“.

Härting bezieht sich dabei auf ein Gutachten (siehe PDF unten) für das Bundesverfassungsgericht, das der bekannte Mediziner und Infektiologie-Professor Matthias Schrappe vorgelegt hat. Darin beschäftigt sich Schrappe mit dem Inzidenzwert. Diesen bewertet er als untauglich für die Rechtfertigung von Lockdowns oder weiteren Eingriffen in die Freiheitsrechte und insbesondere dem Recht auf menschliche Unversehrtheit, das im Artikel 2.2. des Grundgesetzes verbrieft ist. Dort heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Im „wissenschaftlichen Fachgutachten“ steht Zur Inzidenz:

"1. Zu „III. Sieben-Tage-Inzidenz“

1.1. Zu III.1. Satz 1

„Ist die durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt ein geeigneter Indikator für das dortige Infektionsgeschehen und dessen Entwicklung?“

1.1.1.   Vorbemerkung 1:

Das Indikatoren- oder Kennzahlen-Konzept stammt aus der Betriebswirtschaftslehre und wird seit den 80er Jahren auch in den Gesundheitswissenschaften (z.B. Epidemiologie, Infektiologie, Versorgungsforschung) immer dann verwendet, wenn komplexe Sachverhalte (z.B. Qualitäts- oder Sicherheitsprobleme) möglichst aufwandsarm beobachtet werden sollen1. Indikatoren erfüllen eine Vorhersagefunktion und zeigen das Auftreten von problematischen Situationen an, die einer weiteren Analyse bedürfen.

1.1.2.   Vorbemerkung 2

statistisch adäquat dargestellt und spezifiziert sein,

reliabel (zuverlässig) gemessen werden,

valide in der Vorhersagefunktion sein (die Probleme nachweisbar vorhersagen),

sie dürfen nicht von dritten Einflussfaktoren (sog. Confoundern) beeinflusst werden (bekannt oder unbekannt), die den Vorhersageprozess verfälschen, oder müssen entsprechend korrigiert werden (Risikoadjustierung).

Grundsätzlich ist festzuhalten: nicht-reliable Indikatoren sind in keinem Fall valide.

1.1.3.   Zur Spezifizierung des Indikators „7-Tage-Inzidenz“

Der Indikator „7-Tage-Inzidenz“ ist nicht korrekt spezifiziert, und zwar in dreierlei Hinsicht.

  1. Falsch verwendete Begrifflichkeit: Es handelt sich bei der „7-Tage-Inzidenz“ nicht um eine Inzidenz, sondern um eine Melderate (notification rate) oder auch

„Meldeinzidenz“, da es sich nicht um Neuinfektionen innerhalb eines Zeitraums (Definition der Inzidenz), sondern um die Zahl der neuen Meldungen einer Infektion handelt (zur Auswirkung auf die Reliabilität der Messung s. 1.1.4., auf die Validität s. 1.1.5.). Das European Centre for Prevention and Disease Control (ECDC) verwendet daher diesen Begriff nicht, sondern richtigerweise den Begriff „notification rate“, übersetzt „Melderate“ (vgl. zur Illustration Abb. 3). In den vorliegenden Stellungnahmen wird diese Problematik nur in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie angedeutet.

2. Inadäquater Beobachtungszeitraum: Wenn man das Auftreten von Infektionen in einem Zeitraum beschreiben möchte, ist das Verhältnis von Beobachtungszeitraum und Dauer des beobachteten Ereignisses von großer Bedeutung. Bei einer mittleren Inkubationszeit von 5 Tagen wie bei SARS-CoV- 2/CoViD-19 ist eine Periodendauer von 7 Tagen zu kurz, weil das Ergebnis durch bereits vorbestehende Infektionen verfälscht wird. In Abb. 4 werden die Konsequenzen in einer schematischen Darstellung aufgezeigt: die Ereignisse, die mit B bezeichnet sind, werden bei korrektem Vorgehen nicht als Neu-Infektion mitgezählt, obwohl sie zur Infektionslast im besagten Zeitraum beitragen.2 Das ECDC bezieht daher die notification rate auf einen Zeitraum von 14 Tagen, was schon einen besseren Zugang darstellt.

3. Fehlender Populationsbezug: Die Verwendung des Begriffs „Inzidenz“ setzt zwingend einen Bezug auf eine definierte Population voraus („Nenner“), die a priori definiert sein muss (z.B. durch Definition einer konstanten Stichprobengrundgesamtheit) und nicht erst „spontan“ durch die Teilnahme an einem Untersuchungsprogramm gebildet werden darf.

Beispiel: die Rate von postoperativen Wundinfektionen bei operierten Patienten eines Krankenhauses setzt voraus, dass alle operierten Patienten auf das Vorliegen einer Wundinfektion untersucht werden, und nicht nur diejenigen, bei denen man einen Verdacht schöpft oder bei denen z.B. Fieber auftritt oder bei denen die Stationsleitung besonders motiviert ist.

Der in der „7-Tage-Inzidenz“ verwendete Bezug auf 100.000 Einwohner stellt keinen Bezug i.S. des Inzidenz-Begriffes dar, weil diese 100.000 Einwohner gar nicht getestet wurden. Eine Bezugnahme wäre höchstens auf die getestete Populationsstichprobe möglich, die aber nicht systematisch gewonnen wurde."

Quelle: PDF 1 und PDF 2

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