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Ein Bild vom Flüchtlingslager Idomeni macht deutlich, welche unmenschlichen Zustände dort Alltag waren. Quelle: Europäische Union 2016

Im März 2016 zogen rund 1500 Menschen vom überfüllten Flüchtlingslager Idomeni in Nordgriechenland weiter nach Nordmazedonien. Von dort wurden sie teils brachial zurückgewiesen. Acht Frauen und Männer haben mit Unterstützung von ECCHR und PRO ASYL gegen diese Behandlung geklagt. Heute ist das beunruhigende Urteil des EGMR ergangen.

Es gab eine Zeit, da lie­ßen sich die Euro­pä­er noch berüh­ren von Bil­dern von geflüch­te­ten Men­schen, die gezwun­gen waren, mit­ten in Euro­pa in Schlamm und Dreck zu hau­sen. 2016 war so eine Zeit – und das Flücht­lings­la­ger in Ido­me­ni im Nor­den Grie­chen­lands war ein Ort des Elends. Völ­lig über­füllt, auf­ge­weicht vom Regen, der bei­ßen­de Gestank von bren­nen­dem Plas­tik in der Luft, denn die Men­schen, die dort stran­de­ten, ver­brann­ten alles, was sie fan­den, um ein biss­chen Wär­me zu erzeu­gen. Der Name Ido­me­ni wur­de zum Syn­onym für die «Schan­de Euro­pas». Der frü­he­re Bun­des­ar­beits­mi­nis­ter Nor­bert Blüm sprach von einem »Anschlag auf die Menschlichkeit«.

Weil die Regie­run­gen euro­päi­scher Staa­ten die soge­nann­te Bal­kan­rou­te geschlos­sen hat­ten, saßen mehr als 10.000 Men­schen in Ido­me­ni fest. Am 16. März mach­te sich ein Teil von ihnen auf in Rich­tung Nord­ma­ze­do­ni­en, in der Hoff­nung, von dort aus wei­ter zu kom­men in ande­re euro­päi­sche Län­der. Rund 1500 Schutz­su­chen­de zogen ver­zwei­felt an die Gren­ze, dar­un­ter Fami­li­en mit klei­nen Kin­dern und Men­schen im Roll­stuhl. Bekannt wur­de die Akti­on als »March of Hope« – doch ihre Hoff­nung wur­de ent­täuscht. Von maze­do­ni­schen Sicher­heits­leu­ten wur­den die Schutz­su­chen­den ohne Anhö­rung  bru­tal zurück­ver­frach­tet nach Grie­chen­land. Das ist rechts­wid­rig, denn nach Völ­ker­recht muss jeder die Mög­lich­keit erhal­ten, indi­vi­du­ell um Asyl zu bit­ten, und nach der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on sind Kol­lek­tiv­aus­wei­sun­gen ver­bo­ten, wenn nicht bei jedem Ein­zel­nen die indi­vi­du­el­len Umstän­de geprüft wer­den. Acht Män­ner und Frau­en aus Syri­en, dem Irak und Afgha­ni­stan haben des­halb vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) geklagt. Unter­stützt wur­den sie dabei von PRO ASYL und der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on ECCHR.

»Wir sind kei­ne Kri­mi­nel­len. Wir wol­len ein­fach nur Frie­den und eine Zukunft für unse­re Kin­der, denn in unse­rer Hei­mat gibt es die nicht mehr.«

Eine der Klägerin

Richter ignorieren die Tatsachen vor Ort 

Daya­na aus Alep­po, eine der Klä­ge­rin­nen, sagt: »Wir sind kei­ne Kri­mi­nel­len. Wir wol­len ein­fach nur Frie­den und eine Zukunft für unse­re Kin­der, denn in unse­rer Hei­mat gibt es die nicht mehr.« Mit ihrer Fami­lie und zwei klei­nen Kin­dern schloss sie sich im März 2016 dem »March of Hope« an. Doch Daya­na wur­de, so wie die aller­meis­ten ande­ren auch, unter Andro­hung von Gewalt abge­wie­sen und zurück­ge­schickt – zurück in den Schlamm und die unmensch­li­chen Bedin­gun­gen des Camps in Ido­me­ni. »Ich war­te dar­auf, dass uns Gerech­tig­keit wider­fährt«, sagt sie, den Trä­nen nahe. Doch heu­te wur­de ihre Hoff­nung erneut enttäuscht.

Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te ent­schied, dass die Mas­sen­ab­schie­bun­gen nicht gegen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­sto­ßen. Es ist eine Ent­schei­dung, die  voll­kom­men unver­ständ­lich bleibt. Denn eine der Begrün­dun­gen lau­tet, die Schutz­su­chen­den hät­ten an einem der regu­lä­ren Grenz­über­gän­ge ihr Asyl­ge­such stel­len kön­nen (vgl. Rn. 121). Das lässt die rea­len Gege­ben­hei­ten vor Ort voll­kom­men außer Acht. Zu die­ser Zeit waren die Gren­zen dicht, Geflüch­te­te hat­ten gar kei­ne Chan­ce, an einem sol­chen Grenz­über­gang um Schutz zu bitten!

Am 8. März 2016 wur­de der soge­nann­te huma­ni­tä­re Kor­ri­dor auf dem Bal­kan geschlos­sen – für Schutz­su­chen­de war kein Durch­kom­men mehr. Die­ses Datum mar­kier­te zugleich den Beginn für die sys­te­ma­ti­sche Aus­wei­tung von Push-Back-Prak­ti­ken in ganz Euro­pa. Nord­ma­ze­do­ni­en nahm eige­nen Anga­ben zufol­ge zwi­schen dem 8. März und dem 21. Sep­tem­ber 2016 kei­ne Asyl­an­trä­ge von Schutz­su­chen­den mehr an – weder im Lan­des­in­ne­ren, noch an den Grenzübergängen.

Es ist alar­mie­rend, dass die Rich­ter in Straß­burg die Rea­li­tä­ten vor Ort der­art igno­rie­ren. Die Schluss­fol­ge­rung des Gerichts, dass eine der­ar­ti­ge Mas­sen­aus­wei­sung men­schen­rechts­kon­form ist, höhlt den Men­schen­rechts­schutz an den Gren­zen wei­ter aus.

Das ist ein beun­ru­hi­gen­des Signal in einer Zeit, in der nicht nur in Grie­chen­land, son­dern auch in Polen, Kroa­ti­en, Ungarn, Ser­bi­en und in wei­te­ren Län­dern Men­schen in ille­ga­len Push-Back-Aktio­nen zurück­ge­schickt wer­den. Noch immer sit­zen an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze eini­ge hun­dert Schutz­su­chen­de fest, die von Polen – anders als ukrai­ni­sche Geflüch­te­te – nicht rein­ge­las­sen wer­den. Berich­te dar­über, dass pol­ni­sche und bela­rus­si­sche Grenz­be­am­te die Men­schen wech­sel­sei­tig auf die ande­re Sei­te des Zauns prü­geln, sind viel­fach zu finden.

Ein bitterer Tag für Schutzsuchende und den Menschenrechtsschutz in Europa

Für Men­schen wie Daya­na aus Alep­po ist es eine gro­ße Ent­täu­schung, kei­ne Rücken­de­ckung des Men­schen­rechts­ge­richts­hofs zu erhal­ten. Für die acht Kläger*innen und die über 1500 namen­lo­sen Opfer der ille­ga­len und gewalt­sa­men Zurück­schie­bun­gen gibt es kei­ne Gerech­tig­keit. Die Gewalt, die Ent­wür­di­gung, die Ver­wei­ge­rung von indi­vi­du­el­len Rech­ten blei­ben unge­sühnt. Es ist ein bit­te­rer Tag für Schutz­su­chen­de und den Men­schen­rechts­schutz in Europa.

Die acht Beschwerdeführer*innen in dem Fall »A.A. und ande­re gegen Nord­ma­ze­do­ni­en« prü­fen nun, Rechts­mit­tel gegen das Urteil ein­zu­le­gen. PRO ASYL und das ECCHR wer­den sie auch künf­tig dar­in unter­stüt­zen und sich wei­ter­hin ein­set­zen für Gerech­tig­keit und die Gel­tung der Menschenrechte.

(er)