Haben die Hersteller von Impfstoffen zu viel versprochen?

Die bisher verabreichten Vakzine gegen Covid-19 sind nicht mehr so wirksam, wie es zu Beginn der Massenimpfungen den Anschein machte. Die Hersteller geraten unter Rechtfertigungsdruck.

Dominik Feldges 243 Kommentare
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Seit Ende Juli 2021 werden Israelis auch ein drittes Mal gegen Sars-CoV-2 geimpft.

Seit Ende Juli 2021 werden Israelis auch ein drittes Mal gegen Sars-CoV-2 geimpft.

Oded Balilty / AP

Der Chef des grössten amerikanischen Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, strotzte vor Zuversicht, als er im vergangenen April im Gespräch auch mit der NZZ erklärte: Er halte es für realistisch, dass eine «Rückkehr zum normalen Leben» im Spätherbst möglich sei.« Wir haben das am Beispiel von Israel gesehen», fügte er hinzu.

Von wegen Freiheit

Vier Monate später ist die Pandemie im Heiligen Land alles andere als unter Kontrolle. Es hatte weltweit als erster Staat mit Massenimpfungen begonnen und beinahe ausschliesslich auf das Vakzin der Pfizer-Gruppe und von deren deutschem Partner Biontech gesetzt. Obschon inzwischen fast 80% der israelischen Bevölkerung im Alter von über zwölf Jahren vollständig geimpft sind, ist die Anzahl der Neuansteckungen in den vergangenen Wochen rapide gestiegen.

Die Behörden in Israel haben jüngst denn auch eine Reihe von Massnahmen angeordnet, welche die Freiheit der Bevölkerung einschränken. So dürfen beispielsweise an privaten Anlässen in Innenräumen nur noch maximal 50 Personen teilnehmen. Schon Kinder ab drei Jahren müssen geimpft sein oder ein negatives Testergebnis vorweisen, damit sie sich an öffentlich zugänglichen Orten wie in einem Schwimmbad, einem Restaurant oder in einem Museum aufhalten dürfen. Die Verunsicherung ist so gross, dass die Regierung die Verhängung eines erneuten Lockdowns erwägt.

Impfdurchbrüche mehren sich

Im April hatte sich der Konzernchef von Pfizer noch mit der folgenden Aussage gebrüstet: «Wir haben eines der mächtigsten Werkzeuge, die wir in der Medizin entwickeln konnten, nämlich einen Impfstoff mit 97 Prozent Wirksamkeit.» Mittlerweile scheint das Produkt der Firma, das auf der neuartigen Messenger-RNA-Technologie beruht, Geimpfte schlechter zu schützen. Darauf deutet eine Häufung von sogenannten Impfdurchbrüchen in Israel hin – also Ansteckungen von Personen, die an Sars-CoV-2 erkranken, obwohl sie zuvor vollständig geimpft worden waren. Sharon Alroy, die Chefin des staatlichen israelischen Gesundheitsdienstes, hatte bereits vor drei Wochen in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS erklärt, die Hälfte der gegenwärtigen Neuinfektionen entfalle auf Geimpfte.

In der Schweiz ist das Problem mit Impfdurchbrüchen bis anhin überschaubar geblieben. Laut den Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurden hierzulande und in Liechtenstein seit 24. Januar 2021 lediglich 968 Infektionen bei Personen registriert, die mindestens seit zwei Wochen vollständig geimpft waren. Allerdings ist von einer beträchtlichen Dunkelziffer auszugehen, da Geimpfte sich weniger testen lassen und so unentdeckt bleiben dürften. Was die Anzahl der Hospitalisationen von vollständig geimpften Personen betrifft, beschränkte sich diese bis anhin auf 138. Das BAG bezeichnet diesen Wert als «sehr niedrig».

Es werden vor allem Ungeimpfte hospitalisiert

Spitaleintritte im Zusammenhang mit Covid-19 in der Schweiz und Liechtenstein, nach Impfstatus
Vollständig geimpft
Teilweise geimpft
Unbekannt
Ungeimpft

Worauf die vielen Impfdurchbrüche in Israel zurückzuführen sind, ist Gegenstand hitziger Debatten. Möglicherweise zahlt Israel zurzeit den Preis dafür, dass es besonders früh zu impfen begann und wie die meisten Länder alte Menschen priorisierte, deren Immunsystem nun eine Ansteckung nicht mehr zu verhindern vermag. Hinzu kommt, dass die inzwischen weltweit dominierende Delta-Variante auch für geimpfte Personen bedrohlicher zu sein scheint als jene ursprüngliche, die sich von Wuhan aus ausbreitete.

Die Schweizer Gesundheitsbehörden halten die Wirksamkeit der beiden in der Schweiz zugelassenen Impfstoffe gegen die Delta-Variante (der Hersteller Pfizer/Biontech und Moderna) gleichwohl als nach wie vor hoch, wenn es um den Schutz vor symptomatischen Infektionen und schweren Krankheitsverläufen geht. Die Vertreter des BAG sprachen am vergangenen Donnerstag in ihrem jüngsten Lagebericht von einer Wirksamkeit von 94 bis 95%.

Die Pharmabranche sieht sich trotz allem mit der unangenehmen Frage konfrontiert, ob sie im Kampf gegen die Pandemie eine Waffe anpries, deren Wirksamkeit limitiert oder die gar kontraproduktiv ist. Wie sich zunehmend herausstellt, sind es nämlich nicht nur Personen ohne Impfschutz, die, frisch infiziert, andere anstecken, sondern auch solche, die das Pech haben, geimpft zu sein und dennoch zu erkranken.

Lobbyieren für Auffrischimpfungen

Ein solches Szenario war der Weltöffentlichkeit noch vor wenigen Monaten nicht in Aussicht gestellt worden. Es hiess vielmehr, dass Geimpfte entscheidend dazu beitragen würden, eine stärkere Verbreitung des Virus zu verhindern. Dass die Impfung in erster Linie gegen schwere Krankheitsverläufe bzw. gegen den Tod schützen würde, war den meisten Geimpften wohl genauso wenig bewusst. Viele dürften die Erwartung gehegt haben, vor einer Ansteckung vollständig bewahrt zu werden. Der Begriff Impfdurchbruch war damals noch ein Fremdwort.

Allerdings hatten die Vakzinanbieter schon früh angedeutet, dass der Impfschutz nicht ewig anhalten würde und es mit der Zeit Auffrischungen benötige, vor allem, um mit neuen Varianten von Sars-CoV-2 fertig zu werden. Im gegenwärtigen Umfeld lobbyieren die Hersteller denn auch intensiv dafür, dass Staaten solche Auffrischimpfungen einsetzen.

Firmen wie Pfizer und Biontech sowie ihr Konkurrent Moderna, der es ebenfalls mit einem mRNA-Impfstoff auf den Markt geschafft hat, weisen darauf hin, dass viele Geimpfte schon jetzt nicht mehr über genügend Antikörper verfügten, damit ein ausreichender Impfschutz gewährleistet sei.

Anfang dieser Woche gaben Pfizer und Biontech bekannt, sie hätten der US-Gesundheitsbehörde FDA vielversprechende Daten aus einer frühen Phase-I-Studie zum Aufbau von Antikörpern mittels einer Auffrischimpfung übermittelt. Dieselben Informationen würden in den kommenden Wochen auch der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und weiteren internationalen Zulassungsbehörden zur Verfügung gestellt.

Eine Angstkampagne?

Die FDA steht unter dem Druck der US-Regierung, Auffrischimpfungen für breite Teile der Bevölkerung möglichst rasch zu empfehlen. Am Freitag vor einer Woche hatte sich die Behörde in einem ersten Schritt dafür ausgesprochen, Amerikaner mit einem besonders geschwächten Immunsystem wie von einer Organtransplantation Betroffene oder Krebskranke ein drittes Mal zu impfen.

Die Eile beim Thema Auffrischimpfungen kommt in den USA aber selbst in medizinischen Kreisen nicht überall gut an. Kritiker weisen darauf hin, dass es noch zu wenig Belege dafür gebe, ob Rückgänge bei den Antikörpern derart entscheidend die Wirksamkeit der ursprünglichen Impfungen beeinträchtigen würden. Der Regierung von Joe Biden wird vorgeworfen, sich wegen der besonders ansteckenden Delta-Variante von einer Angstkampagne leiten zu lassen und übermässig auf die Pharmaindustrie zu hören.

Kritik von der WHO

Auch bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist man nicht erbaut über das Vorpreschen der USA sowie anderer Industrieländer wie Israel, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, die planen, schon in den nächsten Wochen und Monaten im grossen Stil Auffrischimpfungen zu verabreichen. Die derzeitige Datenlage unterstütze die Notwendigkeit dieses Schritts nicht, erklärten Vertreter der Uno-Organisation am Donnerstag an einer Medienkonferenz.

Sie wiesen zudem darauf hin, dass nun erst Massenimpfungen in Entwicklungs- und Schwellenländern voranschreiten müssten. Anderenfalls stelle man Leuten, die bereits über eine Schwimmweste verfügten, eine weitere zur Verfügung, während andere ohne Schutz dem Ertrinken überlassen würden.

An den Finanzmärkten sind die Erwartungen an die Impfstoffhersteller trotz den jüngsten Rückschlägen nach wie vor hoch. Dies zeigt sich darin, dass sich der Börsenwert der Firma Moderna seit Anfang Jahr mehr als verdreifacht hat – auf rund 150 Mrd. $. Die Anteilseigner von Biontech können sich sogar über eine Vervierfachung freuen.

Im Fall der deutlich grösseren und breiter aufgestellten Pharmagruppe Pfizer, für welche die Einnahmen aus dem Vakzingeschäft weniger stark ins Gewicht fallen, hat sich der Aktienkurs immerhin um einen Drittel erhöht. Der Schweizer Konzern Novartis, der im Geschäft mit Covid-19-Impfungen nur am Rande mitwirkt (die Firma betätigt sich als Abfüller für Biontech), muss sich im Vergleich dazu mit einer Kurssteigerung von knapp 2% begnügen.

Kursverluste auf hohem Niveau

Die Zuversicht der Anleger beruht vor allem darauf, dass Firmen wie Pfizer oder Moderna dank Auffrischimpfungen auch im kommenden Jahr sowie allenfalls noch länger hohe Einnahmen zufliessen werden. Pfizer beispielsweise rechnet für 2021 nun mit einem Umsatz von 33,5 Mrd. $ – nächstes Jahr lockten weitere 22 Mrd. $, prophezeien die Analytiker des Finanzunternehmens Bernstein.

Dennoch scheinen Investoren in den vergangenen knapp zwei Wochen gewisse Zweifel über die Nachhaltigkeit des Geschäfts mit den Corona-Impfungen beschlichen zu haben. Die Aktien von Moderna und Biontech haben gegenüber ihrem Allzeithoch um je ungefähr einen Viertel korrigiert, die Pfizer-Papiere notieren rund 6% tiefer.

Noch lässt sich kaum abschätzen, welche Verbreitung die Auffrischimpfungen finden bzw. ob sie überhaupt auf die nötige Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit stossen werden. Ein Risikofaktor für alle Anbieter sind zudem mögliche Spätfolgen der Impfungen. Sollten sich solche in grösserer Zahl bemerkbar machen, käme die Branche erst recht unter Rechtfertigungsdruck.

Dieser Artikel wurde um einen Abschnitt zur Situation der Impfdurchbrüche in Israel und der Schweiz ergänzt. In einem weiteren Absatz wurde neu auf die gegenwärtige Wirksamkeit der beiden in der Schweiz zugelassenen Impfstoffe laut der Einschätzung des Bundesamts für Gesundheit eingegangen.

Börsenstars aus der Welt der Impfungen

Aktienkurse indexiert
Biontech
Moderna
Pfizer
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Udo Hofmann

Nicht umsonst haben sich Pharmaunternehmen und Politik von jeglicher Verantwortung befreit. Es ist und bleibt ein riesiger Feldversuch am lebenden Menschen. Ob es gut geht kann keiner vorhersagen. Dadurch ist auch das Bedenken Vieler gegenüber der Impfung so groß. Daß die Politik trotzdem solch einen enormen Druck ausübt ist für Viele deshalb überhaupt nicht nachvollziehbar. Denn auch ungeimpft ist das Leben genauso viel wert wie jedes andere Leben. Es heißt Grundrechte, nicht Geimpftenrechte.

C. B.

Auszug aus dem Vertrag Pfizer/Biontech mit den Käufern: "Der Käufer erkennt an, dass die langfristigen Wirkungen und die Wirksamkeit des Impfstoffs derzeit nicht bekannt sind und dass der Impfstoff unerwünschte Wirkungen haben kann, die derzeit nicht bekannt sind… Der Käufer erklärt sich hiermit bereit, Pfizer, BioNTech (und) deren verbundene Unternehmen (…) von und gegen alle Klagen, Ansprüche, Aktionen, Forderungen, Verluste, Schäden, Verbindlichkeiten, Abfindungen, Strafen, Bußgelder, Kosten und Ausgaben freizustellen, zu verteidigen und schadlos zu halten."

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