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Schulen im Corona-Modus NRW verbietet Schichtunterricht in Solingen

Die Kultusministerien tun sich schwer damit, Konzepte für krisentauglichen Unterricht zu entwickeln. Die Stadt Solingen will nun zeigen, wie digitaler Wechselunterricht geht – und wird von der Landesregierung zurückgepfiffen.
Bedenken first: NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (bei einem Schulbesuch im Oktober 2020 in Ratingen)

Bedenken first: NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (bei einem Schulbesuch im Oktober 2020 in Ratingen)

Foto: INA FASSBENDER / AFP

Ein Inzidenzwert von rund 283 Neuinfektionen pro Woche auf 100.000 Einwohner, dazu eine klare Empfehlung des Robert Koch-Instituts (RKI): Als die Stadtverwaltung Solingen am vergangenen Donnerstag die aktuellen Infektionszahlen für ihren Ort sah, fasste sie einen Plan.

Ab Mittwoch und zunächst bis Ende November sollte nur noch die Hälfte der älteren Schülerinnen und Schüler in Solingen in die Klassenzimmer kommen – der andere Teil würde parallel über das Netz unterrichtet. Nur Jugendliche in den Abschlussklassen, Grund- und Förderschüler sollten weiter komplett in den Unterricht kommen – "vorerst". So steht es in der "Allgemeinverfügung" zur Corona-Vorsorge , die die Stadtspitze am Freitag veröffentlichte.

Eine "außergewöhnliche" Maßnahme wäre das gewesen, sagt Schuldezernentin Dagmar Becker, mit dem klaren Ziel, die Schulen für die rund 20.000 Solinger Schülerinnen und Schüler offenzuhalten. Der Plan folgte den RKI-Empfehlungen, nach denen bereits ab einem Inzidenzwert von 50 eine generelle Maskenpflicht im Unterricht und verkleinerte Lerngruppen eingeführt werden sollten, "durch Teilung oder Wechselunterricht". Die Kultusministerien ignorieren diese Empfehlungen bisher weitestgehend – Solingen wollte jetzt zeigen, dass es anders geht.

Rote Karte aus Düsseldorf

Doch diese Pläne hat die nordrhein-westfälische Landesregierung am Dienstagnachmittag kassiert. Per Erlass hat das Gesundheitsministerium in Düsseldorf die Stadt angewiesen, ihr Konzept nicht umzusetzen – auf Verlangen des NRW-Schulministeriums. Das hatte bereits zuvor kräftig auf die Bremse getreten. Man müsse erst einmal prüfen, ob das Solinger Wechselunterrichts-Modell den rechtlichen Vorgaben entspreche und mit Blick auf das Infektionsgeschehen in der Stadt angemessen sei, hatte das FDP-geführte Ministerium seit Freitag wiederholt mitgeteilt. Ausgerechnet jenes Ministerium, dessen Chefin Yvonne Gebauer 2017 mit dem Spruch "Digital first, Bedenken second" in den Landtagswahlkampf gezogen war.

Am Dienstag erklärte Gebauer, der geplante Solinger Weg widerspreche "einem gleich gerichteten Vorgehen innerhalb des Landes, aber auch dem vereinbarten Weg innerhalb der Ländergemeinschaft". Der geteilte Unterricht sei eine Gefahr für die Bildungsgerechtigkeit: "Der Bildungsauftrag für alle Kinder und Jugendlichen kann auf diese Weise nicht vollumfänglich erfüllt werden."

Schulverwaltung, Eltern und Lehrerorganisationen in Solingen sind angesichts der Entscheidung sauer. "Wir sind außerordentlich enttäuscht über diese Entscheidung", sagt der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) am Dienstagabend, und seine Verbitterung ist ihm anzumerken, "ich halte diese Entscheidung für falsch." Die Stadt habe das hohe Infektionsaufkommen in Solingen eindämmen wollen, "in einer intensiven und abgestimmten Weise mit allen weiterführenden Schulen – genau das also, was Bund und Land seit Monaten von uns fordern".

Hälfte der Schulen bereits von Corona betroffen

Jetzt trage das Schulministerium die Verantwortung für das weitere Infektionsgeschehen, so Kurzbach. Und das sei absehbar dramatisch: Noch am Dienstagmorgen habe es in Solingen Infektionen in 17 Klassen an 15 Schulen gegeben. "Allein heute sind weitere elf Klassen dazugekommen, jetzt sind 20 Schulen betroffen." Insgesamt gebe es 40 Schulen in der Stadt. Doch das Schulministerium sei für weitere Gespräche am Dienstag nicht erreichbar gewesen.

"Die Pläne für den Wechselunterricht stießen bei allen Schulakteuren auf breite Zustimmung", sagt Schuldezernentin Becker. Die Schulen hätten seit März entsprechende Erfahrungen gesammelt und Konzepte entwickelt. "Außerdem hat sich bewährt, dass wir in Solingen in Sachen Digitalisierung schon so weit vorangeschritten sind", so Becker. Trotzdem darf die Stadt ihr Konzept jetzt nicht umsetzen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatte den geplanten Schichtunterricht zuvor ausdrücklich begrüßt. Das Konzept sei "vorbildlich" und zeige ein "verantwortungsvolles Handeln der Stadt Solingen", lobte die GEW-Landesvorsitzende Maike Finnern: "Gut ist, dass es nicht zu Schulschließungen kommt." Auch die Stadtverwaltung in Krefeld hatte das Solinger Modell übernehmen wollen und über geteilte Schulklassen im Präsenzunterricht nachgedacht.

Dass das Düsseldorfer Schulministerium das neue Konzept blockiert, erstaunt Stephan Wassmuth nicht. Der Vorsitzende des Bundeselternrats nimmt bei den Bundesländern "ein heilloses Durcheinander" beim Vorgehen in der Coronakrise wahr: "Es geht drunter und drüber." Die Strategien der Ministerien seien – sofern überhaupt vorhanden – nicht mehr nachvollziehbar. "Angesichts dieser Planlosigkeit herrscht in der Elternschaft eine extreme Unruhe", sagt Wassmuth. Viele Äußerungen aus den Ministerien kämen ihm vor wie hilfloser und übereiliger Aktionismus.

Keine Kommunikation, nirgends

Für Mittwochnachmittag hat die Kultusministerkonferenz die Vertreter von Eltern- und Lehrerverbänden zu einer Videokonferenz eingeladen, es soll um das weitere Vorgehen in der Krise gehen. Eltern und Lehrkräfte hatten sich zuvor deutlich positioniert, weil sie sich zunehmend um den Gesundheitsschutz an den Schulen sorgen: So hatten Elternverbände aus ganz Deutschland eine Petition an den Deutschen Bundestag  gestartet, in der sie "schnelles Handeln" fordern, "um die körperliche und psychische Unversehrtheit" von Lehrkräften, Schülern und deren Familien zu schützen. Mehr als 10.000 Personen hatten am Dienstagnachmittag bereits unterschrieben.

Julia Offe ist Biologin und Mutter zwei Kinder an einem Gymnasium in Hamburg. "Kommunikation ist nicht gerade die Stärke der Schulpolitik und der Schulen in dieser Krise", sagt sie. So habe es einen Corona-Fall im weiteren Freundeskreis ihres Sohns gegeben. "Das war an einem Wochenende. Und dann habe ich ständig meine Mails gecheckt, weil ich dachte: Da muss doch irgendeine Information der Schule kommen, irgendeine Handlungsanweisung", erzählt Julia Offe: "Aber es kam nichts."

Weil sie nichts hörte, habe sie die Corona-Infektion nach ein paar Tagen für eine Falschnachricht gehalten – bis sich eine Mutter im WhatsApp-Elternverteiler meldete: In der Zeitung stehe, dass es einen Fall an der Schule gebe. Warum man denn davon nichts höre? "Erst ein paar Stunden später kam eine bemühte Mail des Schulleiters", erzählt Julia Offe. Zwischenzeitlich waren wegen des Zeitungsberichts bereits andere Eltern von ihren Arbeitgebern angesprochen worden. "Ein Beispiel dafür, dass die Kommunikation da überhaupt nicht funktioniert hat", sagt Offe.

"Total absurd"

Andere Eltern erzählen von schwer nachvollziehbaren Entscheidungen im Umgang mit konkreten Infektionsfällen. So berichtet eine alleinerziehende Kölner Mutter, sie sei vom Gesundheitsamt ohne Symptome in Quarantäne geschickt worden, nachdem sie ihre Eltern besucht hatte und in deren Hausgemeinschaft ein Corona-Fall aufgetreten war. Ihr Sohn dagegen – der bei den Großeltern mit dabei gewesen war – unterliegt keiner Quarantäne und geht weiter in die Schule.

Ein Hamburger Vater und SPIEGEL-Mitarbeiter erlebte eine andere Variante: Nachdem in der Klasse seines Sohns an einer Stadtteilschule eine Covid-19-Erkrankung diagnostiziert wurde, musste die komplette Klasse in Quarantäne. Was aber sollte mit den Geschwisterkindern passieren, was mit den Eltern? Die Schule konnte das nicht beantworten. "Es hieß, das Gesundheitsamt werde sich melden", sagte der Vater. Er wartet seit mittlerweile einer Woche auf diesen Anruf und hat sich vorsichtshalber selbst in Isolation begeben, solange sein Sohn nicht zurück in die Schule darf.

Die Planlosigkeit scheint Methode zu haben, bestätigt Julia Offe mit Blick auf die Schule ihrer Kinder. Die liegt ein paar Kilometer weiter, aber in einem anderen Stadtbezirk – und auch dort gab es einen Corona-Fall. "Nur der direkte Sitznachbar des betroffenen Kindes wurde in Quarantäne geschickt, und zwar auch nur in der Kernklasse", erzählt die Hamburger Mutter. "In den Sprachkursen, in Kunst und Musik, da wurden die Sitznachbarn dagegen nicht nach Hause geschickt – es ist total absurd."