Corona, Lockdown, Vernunft und Politik: Was genau lehrt uns die Wissenschaft?

Die Wissenschaft dient der Aufklärung mündiger Bürger. Wer sich ihrer bedient, um anderen vorzuschreiben, was sie tun oder lassen sollen, missbraucht sie. Höchste Zeit, der wissenschaftlich verschuldeten Unmündigkeit dieser Tage entgegenzutreten. Ein Debattenbeitrag.

Michael Esfeld und Philip Kovce 87 Kommentare
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Europa geht mit harten Massnahmen gegen die neuen Wellen vor. Doch wie wirksam sind sie – und welchen Preis zahlt die Gesellschaft dafür? (Mann in einem Bürogebäude am Potsdamer Platz in Berlin, 6. Januar 2021)

Europa geht mit harten Massnahmen gegen die neuen Wellen vor. Doch wie wirksam sind sie – und welchen Preis zahlt die Gesellschaft dafür? (Mann in einem Bürogebäude am Potsdamer Platz in Berlin, 6. Januar 2021)

Filip Singer / EPA

Geht es um Politikberatung, kommt der Wissenschaft naturgemäss eine besondere Rolle zu. Sie verspricht einen unverstellten und umfassenden Blick auf die Sache. Damit unterscheidet sie sich deutlich von sonstigen Interessenvertretern, die im Verdacht stehen, die Belange ihrer eigenen Klientel zwar äusserst scharf zu sehen – für alles andere aber weitgehend blind zu sein. Die Wissenschaft aber lässt sich einzig von ihrem interesselosen Wohlgefallen an der Wahrheitssuche leiten.

So sollte es jedenfalls sein. Eigentlich. Das Gegenteil demonstriert dieser Tage jedoch ein Grossteil der die Politik beratenden Wahrheitssucher.

Seit dem Beginn der Pandemie mangelt es nicht an Empfehlungsschreiben, die mehr oder weniger drastische Zwangsmassnahmen gutheissen, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 einzudämmen – Massnahmen also, die mündige Bürger zu Mündeln des Staates degradieren und sich über fundamentale Grund- und Freiheitsrechte hinwegsetzen.

Fakten und Deutungen

Ein Paradebeispiel solcher Bevormundung liefert die jüngste Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina, der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften. Anfang Dezember 2020 veröffentlicht, forderte sie einen «harten Lockdown», den Bund und Länder zunächst brav exekutierten und seitdem weiter «verhärten». Warum? Weil ein «harter Lockdown», so die unmissverständliche Leopoldina-Doktrin, «aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig» sei; anders liesse sich die «zu hohe Anzahl» der Corona-Neuinfektionen nicht «schnell und drastisch verringern».

Trägt die Ad-hoc-Beschwörung angeblich auswegloser Gängelei tatsächlich zu «einer wissenschaftlich aufgeklärten Gesellschaft» bei, der sich die Leopoldina gemäss eigenem Leitbild verschreibt? Geht es dabei wirklich um die «verantwortungsvolle Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Wohle von Mensch und Natur»? Ja, setzt man sich jetzt ausgerechnet auf diese Weise für «die Achtung der Menschenrechte» als Akademieziel ein?

Nicht wirklich. Aufklärung der Gesellschaft? Fehlanzeige. Verantwortungsvolle Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse? Fehlanzeige. Achtung der Menschenrechte? Fehlanzeige. Stattdessen: postulierte Alternativlosigkeit als akademische Bankrotterklärung.

Über die relevanten Zahlen, Daten und Fakten kann sich inzwischen jeder leicht informieren: In westlichen Ländern einschliesslich Deutschlands und der Schweiz liegt das Durchschnittsalter derjenigen, die infolge einer Corona-Infektion verstorben sind, bei über 80 Jahren. Fast alle litten unter schweren Vorerkrankungen. Sehr viele der Todesfälle treten in Alters- und Pflegeheimen auf. Sonst schwankt die Gefährlichkeit von Sars-CoV-2 und seinen Mutanten statistisch gesehen im Bereich üblicherweise akzeptierter Alltagsrisiken, wie nicht zuletzt der renommierte Stanford-Epidemiologe John Ioannidis immer wieder betont.

Ausgehend von diesen Zahlen gibt es unter Experten natürlich Debatten darüber, welcher Umgang mit dem Virus zur besten aller möglichen Corona-Welten führt. Dabei wird von vielen Stimmen mit guten Gründen neben der Beachtung allgemeiner Hygieneregeln empfohlen, sich auf den gezielten Schutz von Risikopersonen zu beschränken.

Warum aber sollte angesichts dessen ein «harter Lockdown» als «aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig» erwiesen sein?

Zudem ist fraglich, ob sich die Ausbreitung eines Virus mittels kollektiver Freiheitsberaubung de facto eindämmen lässt. Eine aktuelle, Anfang Januar von John Ioannidis und Eran Bendavid im «European Journal of Clinical Investigation» publizierte Studie zeigt, dass «harte» Massnahmen, wenn überhaupt, tendenziell nur geringfügig und kurzfristig nutzen.

In keinem der acht untersuchten Länder, darunter Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und die USA, ist eine nachhaltige Verringerung der Corona-Neuinfektionen durch einen Top-down-Lockdown evident. Als besonders problematisch erweist sich dieses Vorgehen, insofern es den gezielten Schutz von Risikopersonen unterminiert, wie die nach wie vor skandalös hohe Anzahl der Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen verdeutlicht.

Die brutale Vollkostenrechnung

Dem fraglichen Nutzen «harter» Massnahmen stehen freilich beträchtliche Schäden gegenüber. Die unangenehme Frage steht im Raum, ob die Anzahl der durch den Anti-Corona-«Krieg» (so etwa die Wortwahl Joe Bidens und Emmanuel Macrons) im Mittel eingebüssten Lebensjahre die der maximal geretteten Lebensjahre übersteigt. Der deutsche Ökonom Bernd Raffelhüschen hat eine Studie präsentiert, in der er zu dem Schluss kommt, dass durch die drastischen staatlichen Anti-Corona-Massnahmen insgesamt Lebensjahre vernichtet werden. Anders gesagt: Der Tod wird von diesem «Krieg» nicht ausgebremst, sondern umverteilt – mit negativem Saldo.

Ist es womöglich zynisch, so zu kalkulieren? Nein. Vielmehr ist es zynisch, auf Teufel komm raus einen «Krieg» zu führen, ohne dessen Opfer zu bedenken.

Kurzum: Zahlen, Daten und Fakten sprechen auch gegen pandemische Zwangsmassnahmen. Wenn Akademiker, die die Politik beraten, das fahrlässig ignorieren oder gar vorsätzlich unterschlagen, dann werfen sie noch das elementarste Gütesiegel wissenschaftlichen Arbeitens über Bord, nämlich formulierte Hypothesen empirisch zu überprüfen.

Doch selbst dann, wenn der Stand der Corona-Forschung es zuliesse, einen Weg zur Knechtschaft mit der Aussicht auf eine schöne, neue, virusfreie Welt zu versüssen, bestünden dagegen aus Sicht einer gleichermassen aufgeklärten wie aufklärenden Wissenschaft erhebliche Bedenken.

Und die Freiheit?

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist, wenn man so will, alternativlos. Zur Würde des Menschen zählt insbesondere die Freiheit, selbst zu entscheiden, welches Leben er führen, welche Risiken er eingehen, welche Beziehungen er pflegen will. Das gilt auch in Zeiten einer Pandemie grundsätzlich für alle – also auch für Risikopersonen, weshalb deren Schutz zwar individuell ermöglicht, aber keineswegs generell verordnet werden sollte.

Die Freiheit des einen hört in liberalen Demokratien selbstverständlich dort auf, wo sie andere konkret bedroht. Doch diese Bedrohung besteht – den ebenso freiwilligen wie wirksamen Schutz von Risikopersonen vorausgesetzt – durch das sogenannte «Killervirus» gerade nicht.

Dennoch gibt es zahlreiche Corona-Krieger, die unter falscher Flagge der Wissenschaft den Staatsfeind Nummer Sars-CoV-2 unverzüglich um jeden Preis vernichten wollen (Stichwort: «Zero Covid»). Für Mündigkeit und Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung haben diese Kriegstreiber keine Zeit. Sie beschwören lieber harte, härtere, härteste Massnahmen und verklären deren Befolgung zu einem Akt nationaler Solidarität.

Bleiben die Massnahmen wirkungslos, waren sie noch nicht hart genug; unterbleiben die Wirkungen trotz Verschärfungen, werden dafür Sündenböcke gesucht – Saboteure der Volksgesundheit, die es wagen, ein falsches, verbotenes Leben im einzig richtigen zu führen.

Dass Bevormundungshardliner so hoch im Kurs liegen, lässt mit einem Augenzwinkern auf ein grosses Remake des Milgram-Experiments schliessen, an dem wir alle derzeit teilnehmen. Wir erinnern uns: Das Original aus den 1960er Jahren deckte auf, dass ganz normale Leute ziemlich schnell bereit sind, anderen immer stärkere Stromschläge zu versetzen, solange ihnen versichert wird, dass dies «aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig» sei.

So gesehen ist jede härtere Massnahme von heute der eigentliche Corona-Test: Sie testet, was wir als «aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig» hinzunehmen bereit sind – ja, ob es dafür überhaupt Grenzen gibt. Wer dieser fatalen Wissenschaftshörigkeit Einhalt gebieten will, der wird vielerorts sogleich als Wissenschaftsleugner verunglimpft.

Als wäre historisch nichts gewesen, nimmt eine ganz grosse Koalition Illiberaler von links bis rechts dieses Corona-Experiment interessiert zur Kenntnis. Szientismus als Staatsreligion zur Legitimierung von Repressionen? Warum nicht? Notabene: Es wäre das Ende freier Forschung und Lehre, der Abgesang einer offenen Gesellschaft. Mal wieder.

Wie hast du’s mit der Wissenschaft? Bevormundungswissenschaft oder Befreiungswissenschaft? Das ist dieser Tage die Gretchenfrage der Aufklärung. Es ist höchste Zeit, dass die Wissenschaft dem mündigen Bürger, der sie finanziert, wieder zu Diensten steht, anstatt ihn weiter zu bevormunden.

Michael Esfeld ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne und Mitglied der Leopoldina.
Philip Kovce, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau und ist Mitglied im Think-Tank 30 des Club of Rome.

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Regula Zwahlen

Vielen Dank für diesen Debattenbeitrag, dessen Stossrichtung ich als Soziologin und liberal denkender Mensch nur unterstreichen kann. Ich finde auch, wer sich schützen will, soll dies tun, und man sollte genügend Hilfen dazu bereitstellen; und ja, es gibt Risikogruppen, die um ihre Gesundheit bangen. Trotzdem als Gegenwehr: Bitte nicht unter dem Deckmantel  "DER Wissenschaft" ganze Zivilgesellschaften flächendeckend lahmlegen und die jüngere Generation ungefragt in ihrem Fortkommen ausbremsen; das ist wirklich unwürdig. Und ehrlich gesagt, die gegenwärtige Angstkultur bereitet mir im Vergleich zu den von Virologen und Epidemiologen prognostizierten Szenarien die viel grösseren Sorgen. Sie ist einfach so zersetzend, diese Angst und Furchteinflössung, denn  sie führt schnurstracks in die Irrgärten des gegenseitigen Misstrauens, der Diskriminierung und der Bespitzelung. Gerade solcherlei soziale Auswirkungen finde ich viel schlimmer als das Virus selbst.

S. A. K.

Ein weiterer, wichtiger und richtungsweisender Kommentar, der leider wie alle anderen, zu spät kommt. Die überfällige Debatte über die Kosten- Nutzenrechnung der Massnahmen fand auf politischer Ebene unter Einbeziehung gegensätzlicher Standpunkte so nie statt und wird wohl auch nie stattfinden. "Postulierte Alternativlosigkeit als akademische Bankrotterklärung", präzise getroffen! Die politischen Entscheidungsprozesse finden im Resonanzraum des Verordnungsstumpfsinns, gestützt auf einseitigen wissenschaftlichen Beirat, statt. Nützen die Massnahmen nichts, werden sie verschärft und die soziale Kontrolle Richtung Denunziantentum erhöht. Nützen sie und gehen die Ansteckungen zurück, wird nach neuen Gründen für deren Fortsetzung gesucht. Es sind kleine Schritte, die in einer Spirale zur totalen Entmündigung des Bürgers führen, der durch jede neue Verordnung mehr in die Abhängigkeit vom Staat getrieben wird. Entschädigungszahlungen und neue (Tel-)Lockdowns wirken wie Zuckerbrot und Peitsche.