Ausgabe November 2023

X: Musks Plattform für Desinformation

Das neue Logo von »X« und Elon Musks Gesicht, 25.7.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Angga Budhiyanto)

Bild: Das neue Logo von »X« und Elon Musks Gesicht, 25.7.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Angga Budhiyanto)

Vor gut einem Jahr, am 26. Oktober 2022, betrat der Milliardär Elon Musk das Hauptquartier des Microblogging-Dienstes Twitter in San Francisco – in seinen Händen hielt er ein Waschbecken. „Let that sink in“, so der Slogan der Aktion, zu Deutsch: „Lass das sacken“. Damit spielte der Unternehmer Musk, mittlerweile der reichste Mensch der Welt, auf seinen bevorstehenden Kauf der Plattform an. Zugleich bedeutet das Wortspiel aber auch „Lass dieses Waschbecken rein“.

Den Scherz mit dem Sanitärartikel und dem Twitter-Kauf, der am folgenden Tag vollzogen wurde, hat Musk sich 44 Mrd. US-Dollar kosten lassen. Seitdem muss die Welt dessen zunehmend problematische Aussagen auf der mittlerweile in „X“ umbenannten Plattform wie auch dessen unkoordinierten Führungsstil sacken lassen – seit der Übernahme leidet diese aufgrund kurzfristiger Modifikationen immer wieder unter technischen Problemen. Und obwohl seit Juni offiziell Linda Yaccarino zur Chief Executive Officer der X Corp ernannt wurde, scheint Musk das Steuer nicht abgeben zu wollen.

Im Gegenteil: Musk will das Netzwerk zu einer „Everything-App“ nach dem Vorbild des chinesischen „WeChats“ weiterentwickeln, zu einer App also, die eine Vielzahl von Funktionen bietet. Über chatten, Essen bestellen bis hin zu Stromrechnungen bezahlen ist bei WeChat alles möglich.

Damit ist der Milliardär eine riskante Wette eingegangen. Denn trotz neuer Features und bereits erfolgter Massenentlassungen – kurz nach der Übernahme entließ Musk einen großen Teil der Belegschaft, darunter auch viele Angestellte, die für die Sicherheit der Plattform und den Kampf gegen Falschinformationen zuständig waren – schreibt X weiterhin rote Zahlen. Zwar plant das Unternehmen, bereits im kommenden Frühjahr Gewinn abzuwerfen. Doch ob es so kommt, ist fraglich, denn die Umsetzung neuer Features ist kosten- und zeitaufwendig. Zugleich stünde X in direkter Konkurrenz zu einer Vielzahl von Apps, die die von Musk angedachten Funktionen bereits heute anbieten. Vor allem aber verkennt Musk in seiner Ambition die staatlich ermöglichte Monopolstellung von WeChat. Der Erfolg der chinesischen Multifunktions-App ist politisch begründet: Die App gibt Daten an die Regierung weiter, mit denen diese die Bevölkerung überwacht.

Der Kauf von Twitter war allerdings nicht nur ein technisch und wirtschaftlich ambitioniertes Projekt, mit ihm verfolgt Musk auch politische Motive. Musk geriert sich als Verteidiger der freien Rede und Kämpfer gegen den „Woke-Mind-Virus“. So ließ er kurz nach dem Erwerb interne Dokumente, die sogenannten Twitter-Files, publizieren, die zeigen sollten, dass die Plattform bisher unliebsame Meinungen unterdrückt habe. Doch der Skandal blieb aus, auch deshalb, weil sich für Musks Behauptungen – etwa jene, die US-Regierung habe Twitter Anweisungen gegeben – keine Belege finden lassen. Weniger Sorge um die Meinungsfreiheit hatte Musk dagegen, als er Journalist:innen zeitweise auf Twitter sperren ließ, die kritisch über ihn und seine Unternehmen berichtet hatten. Die Accounts einiger öffentlich-rechtlicher Medien – etwa die BBC – wurden unter seiner Ägide vorübergehend mit dem unzutreffenden Label „von der Regierung finanziertes Medium“ versehen, was sie in die Nähe staatlicher Propagandamedien wie „Russia Today“ rückte.

Bei der Frage, für wen die freie Rede auf X gilt und für wen nicht, zeigt Musk eindeutige politische Präferenzen: So ließ er Donald Trumps Account, der nach dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 blockiert worden war, wieder entsperren, ebenso wie zahlreiche weitere Hass-Accounts. Und der für seine rechten und queerfeindlichen Positionen bekannte Gouverneur des Bundesstaats Florida, Ron DeSantis, verkündete auf dem X-Audioformat „Spaces“ seine Ambitionen, Präsidentschaftskandidat der Republikaner zu werden – in einem gemeinsamen Auftritt mit Musk. Auch der Verschwörungstheorien verbreitende Journalist Tucker Carlson fand nach seiner Entlassung durch den Sender FOX auf X eine neue Heimat. Und als X im Juli damit begann, handverlesene Nutzer:innen an Werbeeinnahmen zu beteiligen, profitierten hiervon vor allem prominente Rechtsextreme, etwa der Rassist und Frauenfeind Andrew Tate, der wegen Vergewaltigung und Menschenhandel angeklagt ist.

Bezweifelt werden darf auch, ob X künftig bei Wahlen der selbstauferlegten Verpflichtung, die Meinungsfreiheit zu achten, gerecht werden wird. Bereits kurz vor der türkischen Präsidentschaftswahl im Mai dieses Jahr soll X Konten und Beiträge auf Verlangen der türkischen Regierung gesperrt haben.[1] Im September erklärte Musk, die Hälfte des Teams bei X, das für die Integrität von Wahlen zuständig ist, entlassen zu haben. Zudem hat X das Verbot politischer Werbeanzeigen auf der Plattform aufgehoben. Laut „NewsGuard“ sei dort zugleich ein massiver Anstieg staatlicher Desinformation aus China, dem Iran und Russland zu beobachten.[2] Angesichts dessen überrascht es kaum, dass EU-Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova X jüngst als die Plattform mit dem höchsten Anteil an Falschmeldungen und Desinformation bezeichnete.[3]

Diese kommen auch im Zusammenhang mit den terroristischen Angriffen der Hamas auf Israel massiv zum Einsatz: So wurden auf X zahlreiche Beiträge veröffentlicht, die entweder die Unwahrheit berichteten oder in denen Israelis antisemitisch beschimpft wurden. EU-Kommissar Thierry Breton sah sich angesichts dessen genötigt, Musk in einem offenen Brief an dessen Verpflichtung zur Bekämpfung von Falschmeldungen und illegalen Inhalten zu erinnern. Musk hatte sogar persönlich X-Accounts empfohlen, die Fake News über den Krieg veröffentlichten.

Nährboden für Antisemitismus

Fest steht: Mit Twitters einstiger Stärke, ein breites Meinungsspektrum abzubilden, ist es bei X vorbei. Laut einer Studie ist die Meinungsvielfalt auf der Plattform im deutschsprachigen Raum bereits zurückgegangen und sind rechte Accounts deutlich aktiver geworden.[4] Indem er bestehende Kontrollmechanismen niederreißt, schafft Musk eine Atmosphäre, die politische Desinformation begünstigt. Dabei wird X als politisches Werkzeug mit klarer rechter Ausrichtung in Stellung gebracht, auch Musk selbst wird dabei zum politischen Akteur. Mit Blick auf die US-Präsidentschaftswahlen 2024 müssen diese Entwicklungen Besorgnis auslösen.

Ganz im Einklang mit diesen Entwicklungen verwandelt sich die Plattform zunehmend auch zu einem Nährboden für Antisemitismus, wie jüngst über 150 jüdische Persönlichkeiten in einem offenen Brief kritisierten. X stelle heute eine der größten Gefahren für Jüdinnen und Juden dar, heißt es dort.[5] Auf derartige Kritik reagiert Musk extrem empfindlich: Aktuell verklagt X das Center for Countering Digital Hate, das über den sich ausbreitenden Hass auf der Plattform berichtete. Auch der Anti-Defamation League, die auf den zunehmenden Antisemitismus in dem Netzwerk hinwies, droht Musk mit Klage, da sich Werbekunden wegen ihrer Berichte von X abwendeten.

Doch damit nicht genug: Auch Musk selbst verbreitet antisemitische Verschwörungserzählungen. In einer Antwort auf einen Beitrag, der Migration nach Europa als eine von dem jüdischen Investor Georg Soros geleitete Invasion bezeichnete, schreibt er: „Die Soros-Organisation scheint nichts weniger zu wollen als die Zerstörung der westlichen Zivilisation.“[6] Es ist die rechtsextreme und antisemitische Verschwörungslüge vom geplanten Bevölkerungsaustausch, die der X-Chef mit millionenfacher Reichweite mit solchen Posts persönlich verbreitet.

Auch in die deutsche Politik mischte sich Musk Ende September ein – mit einer Wahlempfehlung für eine Partei, die der Verfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall führt. Mitten im Wahlkampf zu den Landtagswahlen in Bayern und Hessen teilte er einen Post auf X, der darauf hinweist, dass Seenotrettungs-NGOs staatliche Unterstützung aus Deutschland erhalten, und der mit der Hoffnung endet, die AfD möge die nächsten Wahlen gewinnen.[7] Musk kommentierte diesen Post mit dem Satz: „Weiß die deutsche Bevölkerung darüber Bescheid?“ Immer mehr Menschen entscheiden sich deshalb, die Plattform zu verlassen, darunter auch viele Wissenschaftler:innen. Seit Musks Übernahme verzeichnete X ein Minus von 11,5 Prozent täglicher Nutzer:innen.

Die normative Kraft des Faktischen

Doch trotz aller technischen Schwierigkeiten, sinkender Nutzer:innenzahlen und um sich greifender Desinformation gibt es nach wie vor keine vergleichbare Alternative zu X: Noch immer verfügt die Plattform über 225 Millionen tägliche Nutzer:innen – und damit über weit mehr als ihre potenzielle Konkurrenz.

Bei dem dezentralen und nicht kommerziellen Mastodon haben sich bisher lediglich gut 14 Millionen Menschen angemeldet. Trotz eines kleinen Hypes Anfang des Jahres konnte sich die Plattform nicht durchsetzen, denn ein umständlicher Registrierungsprozess, eine auf Tech- und Datenschutzthemen fokussierte Community und eine Optik, die an ein Studierendenprojekt erinnert, stören die Nutzungserfahrung. Metas Twitter-Klon Threads, der im Juli startete, zog zwar innerhalb weniger Tage 100 Millionen Nutzer:innen an. Aufgrund von Datenschutzbedenken ist Threads bis heute allerdings nicht innerhalb der EU zugelassen, und die Nutzungszahlen gehen mit nur noch einer Million täglicher Nutzer:innen bereits massiv zurück. Auch möchte Threads Politik und Nachrichten – zentrale Themen auf Twitter – gar nicht auf seiner Plattform haben. Einen weiteren Mitbewerber hat Twitter selbst geschaffen: Bluesky. Inzwischen ist die von Twitter-Gründer Jack Dorsey angestoßene Plattform zwar unabhängig, erinnert aber in Optik und Funktionsweise an das alte Twitter. Anfang Oktober zählte das Netzwerk – trotz Beta-Phase und einem Einladungssystem – bereits etwa 1,5 Millionen Mitglieder. Besonders in Deutschland verzeichnet Bluesky – seit Musks indirekter Wahlempfehlung für die AfD – einen deutlichen Anstieg an Neuanmeldungen. Mit dabei sind zahlreiche Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft und Medien und damit ebenjene reichweitenstarke Gruppe, die den Ausstieg aus X bislang gescheut hat.

Ob dieser erfolgt, ist letztlich vor allem eine Frage der Verfügbarkeit einer adäquaten Alternative. Viele Nutzer:innen sind weiterhin auf X aktiv, weil sie aufgrund ihrer großen Reichweite auch finanziell von dem Netzwerk abhängen. Das Fortbestehen reichweitenstarker Accounts macht es wiederum für kleine Accounts uninteressant, die Plattform zu verlassen. Es ist die normative Kraft des Faktischen, die X am Leben hält: Alle nutzen X, weil alle X nutzen. Solange sich keine kritische Masse abwendet, wird die Plattform weiter bestehen – und relevant sein.

Vor allem für Journalist:innen, Politiker:innen oder Wissenschaftler:innen war Twitter bislang der Ort für Vernetzung und Austausch schlechthin. Hier konnten Ereignisse von weltweiter Bedeutung live mitverfolgt werden. Auch für zivilgesellschaftliche Bewegungen wie #MeToo oder #IchBinHanna[8] war Twitter die zentrale Plattform. Sie zu ersetzen, scheint aktuell schier unmöglich.

Angesichts der offensichtlichen Probleme, die eine derart bedeutende digitale Infrastruktur in privater Hand mit sich bringt, ist es umso dringlicher, über echte, demokratische Alternativen nachzudenken. Eine Option wäre der Aufbau eines öffentlich finanzierten, aber vom Staat unabhängigen EU-weiten Netzwerks, analog zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Schon Ende 2022 schlug der Journalist Georg Diez ein solches „europäisches Großprojekt“ vor.[9] Die Vorteile lägen auf der Hand: Ein solches Netzwerk wäre nicht verkäuflich, finanziell solide ausgestattet und somit unabhängig von kommerziellen und parteipolitischen Interessen. Die auf anderen Plattformen oftmals mangelhafte Moderation könnte hier konsequent und anhand transparenter Kriterien erfolgen, während zugleich auf die Maximierung verwertbarer Nutzungsdaten und die algorithmische Verstärkung extremer politischer Positionen verzichtet werden könnte. Es wäre ein Netzwerk, das nur den Interessen der Bürger:innen dienen würde.

Derzeit allerdings erscheint ein solches Projekt alles andere als realistisch. Denn erstens müssten zunächst gesellschaftliche Ängste vor staatlicher Überwachung abgebaut werden. Man denke nur an die Corona-Warn-App, die Teile der Gesellschaft aus ebendieser Angst heraus ablehnten. Zweitens müsste geklärt werden, wem Entwicklung und Betrieb einer solchen Plattform anvertraut werden könnte und wie dabei die Interessen der Bürger:innen zu berücksichtigen wären. Und schließlich bräuchte es relevante politische Akteure mit dem entsprechenden Willen, ein solches Projekt umzusetzen. Momentan zumindest sind diese nicht in Sicht.

Was bleibt, ist ein ernüchterndes Fazit: Solange X existiert, wird vermutlich kein vergleichbarer Dienst die Plattform beerben. Stattdessen erleben wir schon jetzt die Zerfaserung der Nutzer:innen auf unterschiedliche Netzwerke. Ob diese und ihr geteiltes Wissen jemals wieder in einem vergleichbaren Microblogging-Dienst zusammenfinden, ist fraglich. Damit aber zeigt sich einmal mehr: Wir können es uns nicht leisten, eine kritische Infrastruktur, wie es die Teilöffentlichkeit von Twitter zuletzt war, in privaten Händen zu belassen.

[1] Perry Stein, Twitter says it will restrict access to some tweets before Turkey’s election, washingtonpost.com, 13.5.2023.

[2] McKenzie Sadeghi, Jack Brewster und Macrina Wang, Misinformation Monitor: September 2023, newsguardtech.com, 26.9.2023.

[3] Roshni Majumdar, EU says Elon Musk’s X is biggest source of disinformation, dw.com, 26.09.2023.

[4] Luca Hammer und Martina Schories, Datenexploration: Wie hat sich das deutschsprachige Twitter von 2021 bis 2023 verändert?, vogel.rip, 2.6.2023.

[5] Vgl. xouthate.org.

[6] Hibaq Farah und Reuters, Elon Musk hits out at Soros foundation before meeting Israel’s Netanyahu, theguardian.com, 18.9.2023.

[7] Vgl. twitter.com/elonmusk/status/1707758153977204846.

[8] Vgl. Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon, #IchBinHanna: Promoviert, habilitiert, perspektivlos, in: „Blätter“, 8/2021, S. 21-24.

[9] Georg Diez, Die Demokratie-Maschine, zeit.de, 23.12.2022.

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