Der Blutrichter hatte es besonders eilig: Um die Hauptverhandlung ganz bestimmt pünktlich um zehn Uhr vormittags im Münchner Justizpalast eröffnen zu können, nahm Roland Freisler am Abend des 21. Februar 1943 den Nachtzug aus Berlin. Und weil er bis dahin weder den Fall hinreichend kannte, der verhandelt werden sollte, noch die Reaktion der Angeklagten auf die Anklageschrift, stieg ein Staatsanwalt beim Halt des Zuges in Regensburg um 6.30 Uhr morgens zu.
Er brachte den Präsidenten des berüchtigten Volksgerichtshofes (VGH) auf den neuesten Stand. So konnte der Prozess gegen Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst gerade eine Stunde nach dem Eintreffen von Freislers Zug auf dem Münchner Hauptbahnhof beginnen.
Die Eile war höchst ungewöhnlich. Denn grundsätzlich mahlen die Mühlen der Justiz eher langsam – zumal in Deutschland. Das gilt und galt in allen Epochen der jüngeren Vergangenheit; in den rechtsstaatlichen Demokratien Bundesrepublik und Weimarer Republik ohnehin, aber auch in der zumindest vorwiegend rechtsstaatlichen Autokratie des Wilhelminismus.
Sogar in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts änderte sich daran nur wenig – sowohl eine Hilde Benjamin als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR als eben auch Freisler hielten sich zumindest formal meist an gewisse (Scham-)Fristen etwa für Einsprüche oder Anträge der Verteidiger. Der erste Prozess gegen die Mitwisser des gescheiterten Staatsstreichs am 20. Juli 1944 beispielsweise begann 18 Tage nach dem Attentat in der Wolfsschanze.
In diesem Fall aber konnte es Freisler gar nicht rasch genug gehen: Obwohl Hans und Sophie Scholl erst am 18. Februar 1943 kurz nach elf Uhr in der Münchner Universität beim Verteilen von antinationalsozialistischen Flugblättern festgenommen worden waren, fiel das Urteil gegen sie und ihren einen Tag später verhafteten Kommilitonen Christoph Probst schon am 22. Februar gegen 12.30 Uhr. Und natürlich gab es die Höchststrafe: Tod durch Enthaupten.
Anlässlich des 80. Jahrestages hat sich Hans Günter Hockerts, der emeritierte Zeithistoriker der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), diesen Prozess noch einmal ganz genau angesehen. In der Februar-Ausgabe der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ (Metropol-Verlag Berlin. 96 S., 14 Euro) publiziert Hockerts seinen Aufsatz „Der Volksgerichtshof und die Weiße Rose“.
Schon im Sommer 2022 veröffentlichte er in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ eine detaillierte Untersuchung über die Festnahme der Geschwister Scholl, die beispielhaft zeigte, wie tiefe Erkenntnisse streng an den Quellen orientierte Geschichtswissenschaft auch zu scheinbar ausgeforschten Themen noch gewinnen kann. Ähnliches gelingt Hockerts nun mit seinem neuen Aufsatz.
Er hat nicht nur systematisch den mit 819 Ordnern riesigen Nachlass der überlebenden Schwester Inge Aicher-Scholl ausgewertet, in den auch die erhaltenen Materialien ihrer Eltern und Geschwister eingegangen sind; dieser Bestand ist im Institut für Zeitgeschichte nutzbar. Sondern Hockerts recherchierte auch in anderen Archiven wie dem Bundesarchiv und dem Staatsarchiv München. Die Ergebnisse bringen die Forschung zur Weißen Rose erheblich voran – wie auch einige andere Neuerscheinungen zum Thema aus Anlass des Jahrestages der Hinrichtung.
Klar identifizieren kann Hockerts den Hauptverantwortlichen für die selbst für das Dritte Reich ungewöhnliche Eile. Es war Paul Giesler, der amtierende NSDAP-Gauleiter von München-Oberbayern. Er verlangte am 19. Februar 1943 von Hitlers Sekretär Martin Bormann die „schnelle Aburteilung“ der tags zuvor festgenommenen Geschwister Scholl.
Bormann setzte dieses Verlangen sofort um – ohne Rücksprache mit Hitler, den der SS-Chef Heinrich Himmler erst am folgenden Nachmittag über „Flugblätter in München“ informierte. Hitler billigte das harte Vorgehen sicher, denn Himmler hakte die entsprechende Notiz auf seinem Sprechzettel ab. Zu dieser Zeit waren zwei Ankläger schon auf dem Weg nach München, um das Verfahren an sich zu ziehen und den Prozess unter Vorsitz des VGH-Präsidenten Freisler vorzubereiten.
Warum drängte Giesler so? Augenscheinlich fühlte er sich persönlich gedemütigt. Am 13. Januar 1943 war der selbst für NSDAP-Verhältnisse besonders aggressive Nazi von Studenten öffentlich vorgeführt worden. Giesler hatte bei einer Rede im Deutschen Museum pauschal Studentinnen beschimpft und ihnen empfohlen, lieber „dem Führer ein Kind zu schenken“, als im Hörsaal zu sitzen. Wer nicht hübsch genug sei, dem stelle er gern „einen meiner Adjutanten“ zur Verfügung – er könne „ein erfreuliches Erlebnis versprechen“.
Daraufhin brachen Tumulte los, und der Gauleiter musste seine Rede unterbrechen; es gab sogar heftige Rangeleien mit studierenden Nazis und einen Protestmarsch über die Ludwigstraße. „Aufs Höchste angespannt wartete Giesler daher auf den Augenblick, an dem er endlich Entschlossenheit und Härte demonstrieren konnte“, schreibt Hockerts.
Fünf Wochen später wurden mit den Scholls zwei Studenten beim Verteilen von Flugblättern gestellt, die indirekt Gieslers Entgleisung ansprachen: „Gauleiter greifen mit geilen Späßen den Studentinnen an die Ehre.“ Der NS-Funktionär sah die Gelegenheit gekommen, ein Exempel zu statuieren. Er sorgte persönlich dafür, dass mit dem Volksgerichtshof das höchste Gericht des Unrechtsstaates tätig wurde statt wie üblich ein Kriegsgericht oder ein Sondergericht. Giesler drang auch auf die Todesstrafe, indem er „Vollstreckung alsbald“ anmahnte. Bei einer Zeitstrafe wäre das unsinnig gewesen.
Der aus Berlin abgeordnete Staatsanwalt hatte es dann so eilig, dass er bereits am 21. Februar 1943 einen Haftbefehl gegen die „beschuldigten Eheleute Scholl“ beantragte; trotz dieses formalen Fehlers, denn es handelte sich um Geschwister, folgte ein Amtsrichter dem Antrag. In der zehnseitigen Anklageschrift wurden Hans und Sophie zwar wieder korrekt beschrieben, trotzdem war das Dokument in gleich mehrfacher Hinsicht ein schwerer Verstoß, dass es selbst für den Volksgerichtshof ungewöhnlich war.
Denn es gab den Angeklagten nur vom frühen Nachmittag des Sonntags bis zum Montagmorgen acht Uhr Zeit, „Einwendungen“ zu erheben oder eigene Beweisanträge zu stellen. Die Verordnung über Verfahren vor dem Gericht Freislers sah eine Frist von einer Woche vor, die „nötigenfalls“ auf 24 Stunden verkürzt werden dürfte – nicht aber auf 16 Stunden. Sophie Scholl schrieb übrigens auf die Rückseite des Begleitschreibens zur Anklageschrift zweimal das Wort „Freiheit“. Ein zentrales Wort auch in den Texten der Gruppe, keine Floskel.
Am 22. Februar 1943 morgens war der Schwurgerichtssaal des Münchner Justizpalasts dicht gefüllt. Laut Augenzeugen war neben Gestapo-Leuten viel Parteiprominenz anwesend, ferner saßen in den hinteren Reihen gewiss sorgfältig ausgesuchte Abordnungen der Studentenkompanien. In ihnen dienten wehrpflichtige Medizinstudenten abwechselnd in frontnahen Lazaretten und lernten an der Universität. „So sollten die Angeklagten als isolierte Einzeltäter vorgeführt werden“, fasst Hockerts das Kalkül hinter der Aktion zusammen.
Ein faires Verfahren war weder gewollt noch möglich; Freisler ließ die drei Angeklagten möglichst wenig zu Wort kommen, beschimpfte sie etwa als „Mischung von Dümmlingen und Kriminellen“. Allerdings kam er nicht umhin, zumindest Auszüge aus vier Flugblättern zu verlesen und Passagen aus dem Entwurf, der Christoph Probst auf die Anklagebank gebracht hatte.
Die Verteidiger agierten unterschiedlich: Der Anwalt der Geschwister Scholl erwies sich als Totalausfall und beantragte allen Ernstes für Hans Scholl ein „gerechtes Urteil“, was im Sprachgebrauch der Zeit die Todesstrafe bedeutete. Für Sophie schlug er in seinem sehr kurzen Plädoyer „eine mildere Strafe“ vor. Der Verteidiger von Christoph Probst dagegen setzte sich für seinen Mandanten so sehr ein, wie es Freisler gerade noch akzeptierte, beantragte die Abtrennung des Verfahrens und führte mehrere Argumente an, um die Höchststrafe zu vermeiden.
Die Geschwister Scholl ließen sich nicht einschüchtern. Sie hatten entschieden, alles zu tun, um ihren Freund Christoph Probst zu retten, denn der war an den Aktionen der Weißen Rose praktisch unbeteiligt gewesen. Hans provozierte Freisler, indem er das Verfahren treffend „ein Affentheater“ nannte. Allerdings ist sein oft zitierter Ausruf „Heute hängt ihr uns, und morgen werdet es ihr sein“ nicht gut belegt; er dürfte, schließt Hockerts, „in dieser waghalsigen Form wohl hagiografisch überhöht“ gewesen sein.
Einmal allerdings brach die Verzweiflung bei Hans durch – als er entdeckte, dass seine Eltern es geschafft hatten, in den Gerichtssaal zu kommen. Er wurde „plötzlich bis zur Ohnmacht blass“, während ein Schütteln seinen Körper durchlief, berichtete ein Augenzeuge. Auch der Verteidiger von Probst sowie Vater Scholl selbst erinnerten sich daran.
Das Urteil stand gegen alle drei Angeklagten von vorneherein fest. Tod durch Enthaupten, und zwar so rasch wie nur möglich. Um 12.45 Uhr schloss der Justizmörder Freisler die Verhandlung nach Verkündung des Urteils, eine Stunde später trafen die beiden Scholls sowie Probst im sechs Kilometer entfernten Gefängnis Stadelheim ein. Das parallel eingereichte Gnadengesuch von Robert Scholl für alle drei Angeklagten lehnte Reichsjustizminister Otto Thierack umgehend telefonisch ab.
Gegen 16 Uhr am Montag, dem 22. Februar 1943, „eröffnete“ der zuständige Staatsanwalt den drei Delinquenten in nur vier Minuten, ihre Hinrichtung werde binnen Stundenfrist erfolgen. Als Erste starb Sophie, „ruhig und gefasst“, wie das Exekutionsprotokoll vermerkte. Hans sagte, bevor der Henker das Fallschwert auslöste, noch: „Es lebe die Freiheit!“ Über die letzten Worte Christoph Probsts ist nichts bekannt. Doch alle eint, Opfer eines Verbrechens geworden zu sein, das sich als Justiz tarnte.
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