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Mögliche Missbrauchsvertuschung in der evangelischen Kirche »Frau Kurschus sollte von allen Ämtern zurücktreten«

Sie erklärte die Missbrauchsaufarbeitung zur »Chefinnensache« – jetzt muss sich die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus Vertuschungsvorwürfen stellen. Betroffene fordern ihren Rücktritt, auch in den eigenen Reihen bröckelt die Unterstützung.
EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus: In Siegen kennt jeder jeden

EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus: In Siegen kennt jeder jeden

Foto: Stefan Puchner / dpa

Der Druck auf die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, wächst: Die Frage, ob sie von sexuell übergriffigem Verhalten eines mit ihr befreundeten Kirchenmitarbeiters gewusst hat, spaltet die Kirche. In den Achtziger- und Neunzigerjahren soll der verheiratete, inzwischen verrentete Beschuldigte sich mehreren jungen Männern in sexueller Absicht genähert haben.

Laut Staatsanwaltschaft haben mehrere Personen unterschiedliche Vorwürfe gegen den Mann erhoben, der wie Kurschus im Kirchenkreis Siegen tätig war. Allerdings gebe es bisher keine Hinweise auf Gewalt oder Drohungen. Auch seien alle mutmaßlich Betroffenen zum genannten Tatzeitpunkt wohl volljährig gewesen, sagte ein Sprecher laut Nachrichtenagentur dpa. Nur ein Mann sei sich unsicher, ob er zu dem Zeitpunkt erst 17 gewesen sei. Die mutmaßlichen Taten könnten zudem verjährt sein.

Es ist also noch unklar, ob es sich in dem Fall um strafrechtlich relevante Vorwürfe handelt. Die Befragung von drei Zeugen steht noch aus, sie sollen bis Ende kommender Woche gehört werden.

Weil aber die Kirche gemeinhin hohe ethische Ansprüche erhebt, ist es vor allem der umstrittene Umgang der Ratsvorsitzenden Kurschus mit den Vorwürfen, der die Causa zum Skandal macht.

Die »Siegener Zeitung « hatte zuerst über die Vorwürfe berichtet. Demnach soll die EKD-Ratsvorsitzende Kurschus bereits in den Neunzigerjahren auf einer Gartenparty von Betroffenen über die Vorwürfe informiert worden sein. Kurschus erinnert sich laut eigenen Angaben nicht an das Gespräch, wies die »Andeutungen und Spekulationen« noch während der Tagung der Synode in Ulm Mitte November zurück.

Seit wann wusste Kurschus Bescheid?

Sie habe erst Anfang 2023 mit einer eingegangenen anonymen Anzeige von den Vorwürfen erfahren, so Kurschus. Die Meldung des Verdachtsfalls an die zuständige Stabsstelle erfolgte laut Landeskirchenamt im März. Daraufhin sei im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein ein Interventionsteam eingerichtet worden, der Superintendent habe »sehr zeitnah« die Staatsanwaltschaft informiert.

Kurschus sei »sehr bewusst nicht in die konkrete Befassung mit dem Verdachtsfall einbezogen worden, weil sie persönlich mit der beschuldigten Person bekannt war«, schreibt ein Sprecher auf Anfrage des SPIEGEL. »Eine proaktive Veröffentlichung des Falles war nicht geboten, da die Anschuldigungen noch in keiner Weise belegt werden konnten und die Staatsanwaltschaft ermittelte, ohne bereits Anklage erhoben zu haben.«

»In Gesprächen vor vielen Jahren« sei die sexuelle Orientierung des Beschuldigten, nicht jedoch »der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden«, so die Westfälische Landeskirche weiter.

Der verantwortliche Redakteur der »Siegener Zeitung«, Tim Plachner, sieht das anders. Er sagte dem Westdeutschen Rundfunk , in Kurschus’ Garten sei es damals explizit um sexuelle Verfehlungen gegangen. Es sei auch die Rede von einem »Schüler-Lehrer-Verhältnis« gewesen, sodass man von »Machtmissbrauch« ausgehen könne. Entsprechende schriftliche Erklärungen zweier Betroffener lägen vor.

Patentante oder nicht – in Siegen kennt jeder jeden

Kurschus gab zu, den Beschuldigten »sehr gut« zu kennen. In Siegen kenne jeder jeden, sagte sie auf einer Pressekonferenz. Kurschus war ab 1993 Pfarrerin und ab 2005 Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Siegen – aber wohl nie direkte Vorgesetzte des Beschuldigten. Seit 2012 ist sie Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen.

Allerdings wirkt die persönliche Nähe Kurschus' zu dem Beschuldigten mindestens verfänglich. Sie soll eng befreundet mit dessen Frau gewesen sein und von seinen homosexuellen Neigungen gewusst haben. Berichte der »Siegener Zeitung«, sie sei die Patentante eines der Kinder des Beschuldigten, kommentierte sie nicht.

Ein Komplott von Kurschus-Gegnern?

Kurschus äußerte sich betroffen, aber nicht klar und deutlich zu den Vorwürfen. Dass sie die EKD-Gremien offenbar monatelang nicht über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft informierte, nimmt ihr so mancher übel. Viele Synodenteilnehmer seien unzufrieden mit dem Krisenmanagement der Ratsvorsitzenden, hört man aus Kirchenkreisen.

Gleichwohl traut sich aus den Reihen der Kritiker bisher kaum jemand aus der Deckung. Der Jurist Michael Bertrams hingegen versuchte im »Kölner Stadt-Anzeiger« , Kurschus im Namen der Westfälischen Kirchenleitung den Rücken zu stärken. »Ich halte diese Vorwürfe gegen Kurschus und insbesondere Rücktrittsforderungen für unangemessen«, schrieb Bertrams. Zwar sei Kurschus’ »in Eile verfasste, holprige Erklärung« angesichts »einiger Ungereimtheiten kommunikativ unglücklich« gewesen. Es entstehe aber der Eindruck, dass »Akteure«, die Kurschus möglicherweise »böswillig gesonnen sind«, der Ratsvorsitzenden »einen Strick drehen und ihr vorhalten, unglaubwürdig zu sein«.

Ist der ganze Skandal also in Wahrheit ein Komplott kircheninterner Gegner?

Anna-Nicole Heinrich geht auf Distanz – ein bisschen

Die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, weist solche Spekulationen zurück. Sie selbst habe am 25. Mai von »dem grundsätzlichen Fall erfahren« und sich am Tag darauf bei der Fachstelle der EKD informiert, wie die Landeskirche in dem Fall vorgehe, schreibt sie auf Anfrage des SPIEGEL. Am 9. November dann habe der Leiter der Stabsstelle Kommunikation sie »zu den Details des Falls« informiert.

Heinrich war noch während der Synode auf Distanz zur Ratsvorsitzenden gegangen, hatte deren Erklärung keinen Beifall gezollt: »Ich war irritiert von dem Applaus«, sagte sie später. Dazu, wie groß der Rückhalt für Kurschus in der EKD derzeit noch ist, will sie sich nicht äußern.

Zum Krisenmanagement der Ratsvorsitzenden schreibt sie: »Die Kommunikation in solchen Fällen ist stets sehr herausfordernd, da verschiedenste Normen und Standards zu beachten sind.« Die Persönlichkeitsrechte aller beteiligten Personen »machen eine offene Kommunikation schwierig, insbesondere wenn Ermittlungen der Staatsanwaltschaft andauern«.

Aktuell gebe es »einen Widerspruch von Darstellungen in einem Fall, der noch von den Strafverfolgungsbehörden untersucht wird«. Dieser Widerspruch »muss im Rahmen der folgenden unabhängigen Aufarbeitung aufgeklärt werden«.

Die Kirchenoberen halten sich also bedeckt. Doch wie ist die Stimmung im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt, der Interessenvertretung der Missbrauchsopfer in der EKD? Deren Sprecher Detlev Zander sieht im Gespräch mit dem SPIEGEL nur eine mögliche Konsequenz.

Betroffenenvertreter Detlev Zander: »Jede Glaubwürdigkeit ist dahin«

Betroffenenvertreter Detlev Zander: »Jede Glaubwürdigkeit ist dahin«

Foto: IMAGO/Heike Lyding / IMAGO/epd

SPIEGEL: Herr Zander, am Montagvormittag will Annette Kurschus in Bielefeld eine persönliche Erklärung abgeben. Sollte sie ihren Rücktritt verkünden?

Zander: Auf jeden Fall. Sie sollte von allen Ämtern zurücktreten, nicht nur vom EKD-Ratsvorsitz. Wir sind seit einer Woche im Krisenmodus, Frau Kurschus muss endlich Konsequenzen aus ihrem eklatanten Umgang mit den Vertuschungsvorwürfen ziehen. Sie hat die Missbrauchsaufklärung zur »Chefinnensache« gemacht – und dann kommt so etwas heraus!

SPIEGEL: Kurschus erklärt, sie erinnere sich nicht an Gespräche über Missbrauchsvorwürfe in den Neunzigerjahren. Das wird schwer zu widerlegen sein.

Zander: Es geht nicht nur um die Vorwürfe, es geht vor allem darum, wie sie damit umgeht. Ihre Salamitaktik, dass sie sich nur scheibchenweise dazu äußert, ist schädlich für alle, die sich in der evangelischen Kirche ernsthaft um Aufklärung bemühen. Die Betroffenen sind extrem verärgert. Unser Gremium, das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt, hat so viel erreicht. Wir haben hart für eine echte Partizipation der Betroffenen gearbeitet. Die Kirche war auf einem guten Weg. Aber mit den aktuellen Berichten ist jede Glaubwürdigkeit dahin.

SPIEGEL: Haben sich mutmaßlich Betroffene aus Siegen bei Ihnen gemeldet?

Zander: Nein, niemand hat dem Beteiligungsforum die Vorwürfe angezeigt. Auch wir wurden eiskalt erwischt von den Berichten auf der Synode in Ulm.

SPIEGEL: Die EKD hatte schon mal eine Ratsvorsitzende, die zurückgetreten ist. Margot Käßmann stolperte 2010 über eine Alkoholfahrt, die publik wurde – und zog sofort Konsequenzen.

Zander: Käßmann und Kurschus sind in diesem Zusammenhang gar nicht zu vergleichen. Sexueller Missbrauch in den Reihen der Kirche ist ein derart sensibles Thema, dass allein der Verdacht auf Vertuschung schon apokalyptisch ist für das Ansehen der Kirche.

SPIEGEL: Wie schlimm steht es um die EKD in Sachen Missbrauchstaten? Wie lange kann sie sich noch hinter den omnipräsenten Schandtaten in der katholischen Kirche verstecken?

Zander: Im Januar 2024 wird die ForuM-Studie veröffentlicht. Darin geht es um sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und der Diakonie. Und die Ergebnisse werden wehtun! Dann haben wir – abgesehen von der bekanntermaßen hohen Dunkelziffer – endlich schwarz auf weiß verlässliche Zahlen. Und die sind nicht weniger schlimm als in der katholischen Kirche. Es wird zu Erschütterungen kommen.

SPIEGEL: Bischöfin Kirsten Fehrs ist stellvertretende Ratsvorsitzende und würde bei einem Rücktritt Kurschus’ Amt kommissarisch übernehmen. Auch sie wurde in der Vergangenheit für ihren Umgang mit Missbrauchsanzeigen in der Nordkirche kritisiert. Wie bewerten Sie das jüngste Engagement von Fehrs?

Zander: Bischöfin Fehrs ist seit Sommer 2022 im Beteiligungsforum vertreten. Mein Eindruck ist: Sie hat mit der Zeit wirklich dazugelernt, die Zusammenarbeit mit ihr ist sehr gut. Ich nehme ihr ab, dass sie es ernst meint mit der Aufklärung.

SPIEGEL: Werden Sie Ihre Arbeit in der EKD trotz aller Widerstände fortführen?

Zander: Viele Betroffene sind enttäuscht. Denn letztlich geht es wie so oft um Machtmissbrauch: Die Verantwortlichen kleben an ihren Ämtern und wir sollen ihnen auch noch Absolution erteilen. Aber wir machen weiter.

Mit Material von dpa