Ausgabe Februar 2023

Lützerath als Fanal

Warum wir transformative Strategien im Kampf gegen die Klimakrise brauchen

Großdemonstration in Lützerath, 14.2.2023 (IMAGO / ANP)

Bild: Großdemonstration in Lützerath, 14.2.2023 (IMAGO / ANP)

Lützerath bleibt. Selbst wenn die Kohle unter dem Ort im Rheinischen Braunkohlerevier irgendwann abgebaggert sein sollte, wird dessen Name fortwirken: als Symbol für den Mut und den Einfallsreichtum von Menschen, die sich einem mächtigen Konzern ebenso wie der Staatsmacht widersetzen. Lützerath steht auch als Symbol für eine Politik, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Die Zeichen der Zeit, das sind der Kohleausstieg und der Übergang in eine Produktionsweise, in der das gute Leben aller und nicht die Verteidigung mächtiger Partikularinteressen den zentralen Bezugspunkt bildet.

Dass dies nicht im Sinne von konservativen und liberalen Parteien ist, kann kaum überraschen. Deren historische Funktion besteht darin, gesellschaftliche Veränderungen so lange im Sinne der herrschenden Interessen hinauszuzögern, bis ihre Notwendigkeit unabweisbar geworden ist. Die Empörung über die politischen Versäumnisse richtet sich deswegen in erster Linie gegen die Grünen. Und dies zu Recht: Kaum sind sie zum zweiten Mal nach 1998 Regierungspartei auf Bundesebene geworden, machen sie erneut Politik gegen jene Bewegungen, aus denen sie selbst einst hervorgegangen sind. Beim ersten Mal war es vor allem die Friedensbewegung, die die Grünen unter ihrer damaligen Leitfigur Joschka Fischer brüskierten. Heute enttäuschen sie die Anliegen der Klimagerechtigkeitsbewegung, deren Stärke sie ihre jüngsten Wahlerfolge mitzuverdanken haben.

Sicherlich hat niemand von der grünen Regierungsbeteiligung eine sozial-ökologische Revolution erwartet. Denn zum einen sind die Grünen nur Teil einer Koalition, in der mit der FDP eine antiökologische Kraft über ein erhebliches Druckpotenzial verfügt. Zum anderen steht außer Frage, dass staatliche Politik anderen Logiken folgt als das Handeln sozialer Bewegungen. Die Möglichkeiten staatlicher Politik werden systematisch durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkt. Diese schreiben sich in die staatlichen Apparate ein, sie prägen die Denkweisen ihres Personals und bestimmen, welche Probleme in welcher Form überhaupt debattiert werden können. Der von den 1968ern angestrebte „Marsch durch die Institutionen“ resultierte im Marsch der Institutionen durch die Protagonist:innen der Bewegung. Das war die Erfahrung der ersten grünen Regierungsbeteiligung: Schneller als ihm lieb war und meist ohne es zu bemerken, verinnerlichte das grüne Spitzenpersonal die institutionellen Restriktionen und missverstand dies als Ankunft auf dem harten Boden der Realität. Gemeint war die Realität der Herrschenden, die sie bis dahin kritisiert hatten und die sie nun mitgestalten wollten.

Das Versäumnis der heute tonangebenden Grünen liegt darin, diese Erfahrung nicht reflektiert zu haben. Stattdessen liefen sie blindlings und unvorbereitet in eine Situation, in der sie schließlich den Quasi-Freibrief für einen der weltweit größten Umweltsünder als klimapolitischen Kompromiss verkaufen sollten. Über so viel grünen Realitätssinn wird sich RWE vermutlich noch länger die Hände reiben. Denn in Zeiten einer eskalierenden Klimakrise darf der Konzern weitere 280 Mio. Tonnen Braunkohle abbaggern und verbrennen. Im Jahr 2030, acht Jahre früher als im Kohleausstiegsgesetz vorgesehen, lässt er es dann gut sein mit der heißen Luft und der verbrannten Erde – und kann sich auf der Gewissheit ausruhen, dass dann die gestiegenen Preise für Zertifikate aus dem europäischen Emissionshandel die Kohleverstromung ohnehin unrentabel gemacht haben werden. Als Zugabe obendrauf bekommt der Konzern die Zerstörung einer wichtigen Infrastruktur der Klimagerechtigkeitsbewegung, die ihm in den kommenden Jahren noch einiges an Ärger beschert hätte: Das besetzte Lützerath war ein Ort, an dem Menschen zu Aktionstrainings, Workshops und Festivals zusammenkamen.

Nun ließe sich einwenden, dass die Vorgängerregierung der Ampel die Energiewende systematisch ausgebremst und damit die Sachzwänge, mit denen Grüne und SPD als Regierungsparteien heute konfrontiert sind, erst geschaffen habe. Ohne die Grünen in der Regierung würde zudem alles noch schlimmer kommen. Und schließlich trage die derzeitige Regierung keine Schuld an den Gaspreissteigerungen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. All das ist richtig, trifft aber nicht den entscheidenden Punkt: Dieser besteht zunächst einmal in der simplen Tatsache, dass der Abbau der Kohle unter Lützerath aus Gründen der Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht nötig ist. Zu diesem Schluss kommen gleich mehrere Gutachten.[1] Sodann, und in der aktuellen politischen Diskussion weitgehend vernachlässigt, stellt sich die Frage: Für wen und wofür wird der Strom eigentlich erzeugt? Und um wessen Versorgungssicherheit geht es hier eigentlich?

Denn selbst wenn die Kohle benötigt würde, um den bestehenden Strombedarf zu decken, wäre es ökologisch naheliegend, erst einmal diesen Bedarf zu problematisieren, bevor zu seiner Deckung noch mehr CO2 emittiert wird: Müssen wir wirklich Strom für Autofabriken erzeugen, damit darin riesige Mengen an immer größeren Fahrzeugen hergestellt werden, die, einmal freigelassen, selbst Unmengen an Strom verbrauchen oder die fossilen Treibstoffe gleich selbst in Kohlendioxid verwandeln? Brauchen wir Energie für eine chemische Industrie, um diese in die Lage zu versetzen, Berge an Verpackungen aus Kunststoff zu produzieren, die nach einmaligem Gebrauch verbrannt oder ins Ausland exportiert werden? – Das ist die Versorgungssicherheit einer Produktions- und Lebensweise, die bereits heute unzählige Menschen in existenzielle Unsicherheit stürzt.

Warum soziale Bewegungen unerlässlich sind

Viel sinnvoller – und angesichts sich zuspitzender Krisen immer dringlicher – wäre es dagegen, innezuhalten und zu fragen, welche Dinge tatsächlich gesellschaftlich notwendig sind und sich zudem auf eine Weise herstellen ließen, die nicht die Erde weiter aufheizt und die Lebensgrundlagen von Menschen hierzulande, andernorts und in der Zukunft zerstört: ein nachhaltiges Mobilitätssystem, ein gut ausgebautes und für alle zugängliches Gesundheitswesen oder energetisch sanierte und preiswerte Wohnungen.

Natürlich ist dafür genug Geld da. Die Gesellschaft ist so reich wie nie zuvor. Wer sich hunderte Milliarden Euro für die Bundeswehr oder die Bankenrettung leisten kann, der hat auch ausreichend Ressourcen dafür, die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Warum sollten wir weiterhin Ressourcen und menschliche Kreativität dafür verschwenden, neue Finanzinstrumente zu entwickeln, SUVs zu designen oder Waffensysteme zu optimieren? Warum nicht stattdessen die gesellschaftlichen Anstrengungen, die praktische und kollektive Intelligenz von Beschäftigten in der Produktion, im Pflegebereich oder im Gesundheitswesen, die Kreativität von Ingenieur:innen in den Dienst des guten Lebens für alle stellen?

Solche Fragen lassen sich in den Parlamenten und Ministerien kaum diskutieren. Das ist kein Wunder, denn sie gehen ans Eingemachte der kapitalistischen Produktionsweise: an die Möglichkeit, das Privateigentum an Produktionsmitteln letztlich auch zum Schaden der Allgemeinheit nutzen zu dürfen, solange dabei Profite, Wachstum und Steuereinnahmen herauskommen. Übertüncht wird dies mit Begriffen wie „Wettbewerbsfähigkeit“, dem Verweis auf Arbeitsplätze oder dem Argument, dass „die Chinesen“ das Problem beim Klimawandel seien. Europa mache ja schon seine Hausaufgaben. Doch all diese Behauptungen sind Nebelkerzen.

Eben deshalb braucht es radikale soziale Bewegungen wie die in Lützerath und andernorts kämpfende Bewegung für Klimagerechtigkeit. Sie erschüttern scheinbare Gewissheiten, sie artikulieren Anliegen, die in den staatlichen Apparaten nicht oder nicht ausreichend vertreten sind, und sie machen scheinbar naturwüchsig gegebene harte Realitäten als das sichtbar, was sie sind: geronnene Resultate früherer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, oft in Form der Verallgemeinerung mächtiger Partikularinteressen. Die harten Realitäten als geschichtlich gewordene zu begreifen und sich einer Sachzwanglogik zu verweigern, heißt, die oft verschüttete Möglichkeit von Veränderung freizulegen und deutlich zu machen, dass alles auch ganz anders sein könnte.

Um Erkämpftes zu sichern und Erfolge wirkmächtig werden zu lassen, müssen gleichwohl irgendwo Pflöcke eingeschlagen werden. Veränderungen müssen rechtlich verankert, gegen Rückschritte abgesichert und so gestaltet werden, dass sie Angriffen standhalten. Darin liegt eine Schwierigkeit, an der schon viele progressive Bewegungen gescheitert sind. Sie erzeugen Aufbruchstimmung, zeigen mögliche Alternativen auf und wirken politisierend auf jüngere Generationen. Doch ohne spürbare gesellschaftliche Veränderungen, wie etwa durch das Ende der Verbrennung fossiler Energieträger, das Verbot von Fleischfabriken oder einen ambitionierten Rückbau des Automobilitätssystems, droht Frustration. Eine weitere Gefahr liegt darin, dass Bewegungen zu Beginn zwar vor allem gegen Repression und die herrschende Meinung kämpfen, dass ihnen auf lange Sicht aber die Vereinnahmung droht. Repression kann Bewegungen sogar noch stärken, erhöht sie doch bei aller Gefahr für Leib und Leben auch die Aufmerksamkeit für ihre Anliegen. Vereinnahmung bedeutet dagegen oft deren schleichendes Ende.

Die Herausforderung, transformative Strategien zu entwickeln

Ebenso wie ihre ökonomische Geschäftsgrundlage, der Kapitalismus, leben liberale Demokratien von Veränderung. Sie reproduzieren sich, indem sie sich beständig neu erfinden. Soziale Bewegungen sind Seismographen eines Handlungsbedarfs, der sich aber politisch einfangen und nicht selten auch in neue Geschäftsmöglichkeiten übersetzen lässt. Das Resultat ist das, was Antonio Gramsci als „passive Revolution“ bezeichnet hat: die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse auf dem Weg ihrer Veränderung, gesteuert von den herrschenden Interessengruppen. Entscheidend ist, sich dessen bewusst zu werden und einen kritisch-reflektierten Umgang damit zu finden. Das gilt sowohl für radikale Bewegungen als auch für progressive Akteure in den staatlichen Apparaten. Beiden stellt sich die Herausforderung, transformative Strategien zu entwickeln und sich dabei wechselseitig zu unterstützen.

Im Unterschied zu modernisierend-affirmativen Strategien konzipieren transformative Strategien Reformen so, dass sie idealerweise Dynamiken in Gang setzen, die sich der Kontrolle der Herrschenden entziehen und sie letztlich vor Vereinnahmung schützen. Emanzipatorische staatliche und parteipolitische Akteure, denen es wirklich um weitreichende Transformationen geht, sollten sich des Spannungsverhältnisses bewusst werden, das darin liegt, Politik gleichzeitig in den und gegen die Institutionen des kapitalistischen Staates machen zu müssen. In diesem Widerspruch kann sich emanzipatorische Politik erfolgreich bewegen, wenn sie sich auch als institutioneller Resonanzboden sozialer Bewegungen begreift. Statt Bewegungen nur repräsentieren zu wollen, müssen Regierungen und Parteien, denen es um grundlegende Veränderungen geht, zur Ermächtigung von Bewegungen beitragen, aus denen sie umgekehrt ihrerseits Kraft ziehen. Nur so lassen sich Dynamiken in Gang setzen, die schließlich in der Absicherung von Errungenschaften münden, die von den Bewegungen erkämpft wurden.

Die Grünen haben dies versäumt. Sie agieren gleichsam auf einem halbierten Resonanzboden: Aus der Selbstermächtigung der Klimagerechtigkeitsbewegung ziehen sie Kraft in Form von Wähler:innenstimmen. Aber sie geben der Bewegung nichts zurück, sondern überlassen sie im Matsch von Lützerath der staatlichen Repression, die ausgerechnet von einem grünen Polizeipräsidenten orchestriert wird.

Während die Bewegung aus den bisherigen Geschehnissen zumindest symbolisch als Siegerin hervorgeht, könnten die Grünen, wie Mona Jaeger in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mutmaßt,[2] mit der Räumung von Lützerath ihren Hartz-IV-Moment erleben: Ebenso wie die SPD 2005 mit der Verabschiedung des Sozialgesetzbuches II über Jahre hinweg ihre sozial- und arbeitsmarktpolitische Glaubwürdigkeit verspielte, sind die Grünen drauf und dran, den letzten Rest an Kredit zu verspielen, den die Klimagerechtigkeitsbewegung ihnen vielleicht noch gewährt haben mag. Im festen Glauben, staatstragend auf dem harten Boden der Realität zu stehen, legen sie auf einem durchweichten Acker im Rheinland eine veritable Bauchlandung hin.

Wie weiter nach Lützerath?

Beispiele, die zeigen, dass und wie transformative Politik machbar ist, gibt es zu Genüge. Eines aus der jüngeren Zeit ist die Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ in Berlin. Die Umsetzung des Volksentscheides würde die Lebenssituation vieler Menschen verbessern und gleichzeitig ein kapitalistisches Strukturprinzip infrage stellen, nämlich die private Verfügung über eine basale Infrastruktur. Ähnlich ließe sich mit anderen Infrastrukturen verfahren. Auch im Energiebereich wird über Vergesellschaftung diskutiert und in der Wasserversorgung wurden vielerorts privatisierte Unternehmen rekommunalisiert. Die Initiative ging in allen genannten Fällen von außerparlamentarischen Initiativen aus, die ihrerseits von einer – nie konfliktfreien – Interaktion mit linken Akteuren in den Staatsapparaten profitierten.

Was ließe sich nach Lützerath daraus lernen, und wie könnten doch noch spürbare klimapolitische Veränderungen erstritten werden? Ein wichtiger erster Schritt wäre ein Moratorium für die Förderung der Kohle, ähnlich dem, das über 700 Wissenschaftler:innen für die Räumung der Siedlung gefordert hatten.[3] Ein Moratorium wäre zwar nicht per se transformativ, ließe sich aber in einem transformativen Sinn füllen, wenn über das „Wie viel“ und „Wofür“ gesellschaftlicher (Energie-)Produktion diskutiert würde. Denn genau darum geht es: Wir müssen gerade im Energiebereich unsere zutiefst zerstörerische Produktions- und Lebensweise grundlegend verändern. Das impliziert einen Rückbau des motorisierten Individualverkehrs sowie eine Abkehr von der industriellen Landwirtschaft, aber auch ein Überdenken der Digitalisierung, die immer stromintensiver wird. Diese Fragen wurden in Lützerath direkt oder indirekt auch gestellt – und sie bedürfen einer nachhaltigen und global solidarischen Antwort.

[1] Siehe etwa das Gutachten der FossilExit-Forschungsgruppe an der Universität Flensburg, Das Rheinische Braunkohlerevier. Aktuelle Zahlen, Daten und Fakten zur Energiewende, www.coaltransitions.org, 2022 sowie: Aurora Energy Research, Auswirkungen eines adjustierten Kohleausstiegs auf die Emissionen im deutschen Stromsektor, www.kohlecountdown.de, 22.11.2022.

[2] Mona Jaeger, Erleben die Grünen ihren Hartz-IV-Moment?, www.faz.net, 15.1.2023.

[3] Offener Brief: Ein Moratorium für die Räumung von Lützerath, www.de.scientists4future.org, 11.1.2023.

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