Der andere Blick

Wie die Deutsche Bahn ihre Passagiere vertreibt und warum die Politik eine Mitschuld trägt

Die Zustände an deutschen Bahnhöfen und in deutschen Zügen werden fast täglich chaotischer. Politik und Konzern müssen weiter denken als bis zur nächsten Baustelle.

René Höltschi, Berlin 110 Kommentare
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Bei der deutschen Bahn sind Verspätungen eher die Regel als die Ausnahme.

Bei der deutschen Bahn sind Verspätungen eher die Regel als die Ausnahme.

Michele Tantussi / Getty

«Wenn ich einen Termin in einer anderen deutschen Stadt einhalten muss, nehme ich inzwischen wieder das Auto»: Dieser Satz ist in Deutschland immer öfter von Menschen zu hören, die eigentlich überzeugte Bahnfahrer sind und stets vom Komfort der ICE-Züge der Deutschen Bahn (DB) geschwärmt haben. Doch was nützt Komfort, wenn die einen Züge kurzfristig ausfallen und die anderen massiv verspätet oder hoffnungslos überfüllt sind?

Verspätungsrekorde

Seit Wochen ist das eher die Regel als die Ausnahme. Selbst auf kurzen Teilstrecken zum Beispiel von Berlin nach Wolfsburg oder von Dresden nach Berlin schafft es die DB, trotz fahrplanmässiger Abfahrt und einer Fahrzeit von unter zwei Stunden Verspätungen von einer halben Stunde und mehr anzuhäufen. Auf längeren Strecken wird das Bahnfahren vollends zur Lotterie, nicht nur für Passagiere, sondern erst recht für Unternehmen, die «für Güter die Bahn» gewählt haben.

Auf Bahnhöfen sind filmreife Szenen zu erleben: Der Sicherheitsdienst sperrt Auf- und Zugänge, um eine weitere Überfüllung eines Perrons zu vermeiden, die Bahn droht mit der Polizei, um einen überfüllten Zug räumen zu lassen. Auch DB-Statistiken belegen die Misere: Im Juni waren 42 Prozent der Personenfernzüge mehr als 6 Minuten verspätet – der schlechteste Monatswert seit einem Wintereinbruch Ende 2010.

Gewiss, in der Ferienzeit ist eine hohe Auslastung normal, und Corona-bedingt hohe Krankenstände erschweren der Bahn die Aufgabe. Doch das Chaos hat auch tiefergreifende Ursachen. Zum einen hat die Politik im Autoland Deutschland die Bahn über lange Jahre vernachlässigt. Wechselnde Verkehrsminister haben sich kaum strategisch um sie gekümmert, dafür hat der Staat als Eigentümer den DB-Aufsichtsrat vor allem mit Staatssekretären und Abgeordneten statt Verkehrsexperten aufgefüllt.

Marode Infrastruktur

Die Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur lagen und liegen bei einem Bruchteil des Schweizer Wertes, was sich nicht allein durch die Topografie erklären lässt.

In der Folge hat die Infrastruktur nicht mit dem Wachstum des Verkehrsaufkommens Schritt gehalten. Nun häufen sich Störungen altersschwacher Anlagen, an allen Ecken und Enden wird geflickt. Zugleich fehlen vielerorts Ausweichrouten, Weichen und andere technische Einrichtungen, mit denen Züge ohne massiven Zeitverlust an Baustellen und anderen Störungen vorbeigeleitet werden könnten.

Zum andern hat sich auch der DB-Konzern keine Lorbeeren verdient. Mit den – längst ad acta gelegten – Plänen für einen Börsengang verband sich der ehrgeizige Traum, zu einem Logistikkonzern von globaler Bedeutung heranzuwachsen. Darob, so scheint es, geriet die tägliche Kleinarbeit an der Pünktlichkeit im Inland ins Hintertreffen.

Zweifel an der Vernunft

Nun will die Ampelregierung im Dienste des Klimaschutzes den Bahnverkehr stark ausbauen. Der liberale Verkehrsminister Volker Wissing hat die Modernisierung der Bahn zur Chefsache erklärt und gemeinsam mit dem Bahnchef Richard Lutz Pläne für eine Generalsanierung zentraler Netzabschnitte ab 2024 angekündigt. Dass dieselbe «Ampel» diesen Sommer 2,5 Milliarden Euro statt in die Sanierung des Netzes in die Subventionierung von 9-Euro-Tickets steckt, die zusätzliche Nachfrage im Regionalverkehr und damit noch mehr Überlastung schaffen, weckt indessen leise Zweifel an ihrer bahnpolitischen Vernunft.

Zudem müsste die Politik weiter denken als bis zur nächsten Baustelle: Bis anhin hat die DB im Personenfernverkehr einen Marktanteil von 96 Prozent, und private Anbieter klagen über vielfältige Benachteiligungen. Abhilfe schaffen könnte die im Koalitionsvertrag verworfene völlige Trennung von öffentlichem Netz und liberalisiertem Fahrbetrieb. Kaum etwas dürfte die DB mehr wachrütteln als private Konkurrenten, die pünktlicher sind.

Sie können dem Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi auf Twitter folgen.

110 Kommentare
Martin Lang

Nach 35 Jahren nahezu ausschließlicher Nutzung der Bahn zum pendeln und für Dienstreisen, bin auch ich auf das Auto umgestiegen. Das hat auch gravierende Nachteile, keine Frage. In dem Artikel fehlt ein Aspekt, der mich massiv stört: Die Verwahrlosung von Bahnhöfen. Frankfurt HBF z.B. ist eine reine Kloake und das ist über die Jahre schlimmer geworden. Mir ist unbegreiflich, wie eine derartige Situation hingenommen werden kann. Als Bahnreisender muß man sich durch Gestank, Urinpfützen und durch die "Bewohner" dieser Parallelwelt durchschlagen, um zum Gleis zu kommen.

Detlef Wacker

So lange man unfähige Vorstände installiert und abgehalfterte Politiker zur Bahnexperten befördert (Pofalla!) und überhaupt es Politikern überlässt, die Bahn zu "managen" wird sich der Zustand nicht ändern. Die Bahn ist ein Abbild der verlotterten Politikkultur in Deutschland. Gendern, "Haltung zeigen" und "Zeichen setzen" sind wichtiger als Pünktlichkeit und Service.

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