In Großbritannien ist die öffentliche Debatte zum Krieg in Israel und Gaza breiter, differenzierter als in Deutschland.

Ich bin zurzeit in London und froh darüber. Am 11. November wurde hier der Tag des Waffenstillstands gefeiert, der den Ersten Weltkrieg beendete. Gleichzeitig demonstrierten Hunderttausende friedlich in den Straßen Londons und forderten ein Ende der Gewalt in Gaza. Muslime, Juden, Christen – alle marschierten gemeinsam für den Frieden. Das scheint in Deutschland aktuell nur schwer vorstellbar. 

In Großbritannien ist die öffentliche Debatte zum Krieg in Israel und Gaza breiter, differenzierter und kritischer als alles, was ich aus Deutschland kenne. Es gibt weniger Entweder-oder, Ja-aber und Ja-nein. Die Gräueltaten der radikalislamistischen Hamas in Israel werden als unmenschlich grausame Verbrechen anerkannt. Gleichzeitig wird die Verhältnismäßigkeit der Reaktion der Regierung Israels hinterfragt: Sie hat Gaza von Strom, Treibstoff und Wasser abgeschnitten. Tausende kamen durch die Bombardierung von Wohngebieten ums Leben. Trotz Israels Recht auf Selbstverteidigung ist die Frage berechtigt: Handelt es sich um kollektive Bestrafung und damit um ein Kriegsverbrechen?

Die deutschen Nachrichtenmedien schleichen um diese Frage mit der Kneifzange herum. Das scheint unnötig, denn Kriegsverbrechen sind klar definiert. Als „schwere Verstöße gegen Regelungen des humanitären Völkerrechts“ sind sie nie legitimiert, auch nicht als Akt der Selbstverteidigung. Ihr Verbot gilt für alle Staaten – die USA und Russland, genauso wie für Israel. Gleichzeitig gelten Menschenrechte für alle – Juden und Palästinenser. Diese Punkte sind wichtig. 

Journalistische Glanzleistungen: in Deutschland selten 

Laut dem Menschenrechtsbeauftragten der Vereinten Nationen, Volker Türk, verübten tatsächlich sowohl die Hamas als auch Israel im vergangenen Monat Kriegsverbrechen. Das heißt, die „von bewaffneten palästinensischen Gruppen am 7. Oktober verübten Gräueltaten (…) waren Kriegsverbrechen“. Gleichzeitig stellt die „kollektive Bestrafung palästinensischer Zivilisten durch Israel (…) ebenfalls ein Kriegsverbrechen dar, ebenso wie die unrechtmäßige Zwangsevakuierung von Zivilisten“. Das berichtete der US-amerikanische Sender CNN am 9. November. In den deutschen Medien muss man diese Sowohl-als-auch-Debatte suchen.

Stattdessen fluten Direktzitate von Politiker:innen unsere Schlagzeilen. „In diesen Tagen sind wir alle Israelis“, meinte etwa Außenministerin Annalena Baerbock kurz nach den Hamas-Angriffen; „Hamas muss zerstört werden“, legte Vizekanzler Robert Habeck kürzlich nach. In diesem Klima der Kriegsparolen gibt es kaum wirkliche Debatten. Noch seltener gibt es journalistische Glanzleistungen, die kritisch einordnen, was faktisch passiert.

Eine Ausnahme brachte vor wenigen Wochen der Sender Al Jazeera: Der US-Amerikaner Marc Lamont Hill interviewte den ehemaligen stellvertretenden israelischen Außenminister Danny Ayalon zu möglichen Kriegsverbrechen Israels. Dieses Interview war bemerkenswert. Gut recherchiert, klar und angstfrei. Lamont lässt nicht locker, hakt nach und bekommt Antworten, die in keine Entweder-oder-Kategorie passen. 

Davon brauchen wir mehr, auch in Deutschland. Denn wir haben eine dunkle Geschichte des Antisemitismus, die wir ehrlich angehen müssen. Auch Kriegsverbrechen sind Teil dieser Geschichte. Ihr Verbot war eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Es sollte garantieren, dass solch ein Grauen nie wieder passiert.

Erstveröffentlichung berliner-zeitung, 13.11.2023