Über muslimische Männer wird viel geredet. Wenn sie straftätig werden, ob allein oder in Clans, wenn sie Autokraten wählen, wenn sie sich in vermeintlichen Hinterhofmoscheen treffen. Die Autorin Sineb El Masrar hat den Versuch unternommen, mit muslimischen Männern zu reden statt über sie. Und sie hat sich auch nicht nur mit den üblichen Verdächtigen getroffen, sondern den Fokus erweitert. So schreibt sie in ihrem am Montag bei Herder erscheinenden Buch "Muslim Men" Porträts nicht nur über Gangsta-Rapper und Clankriminelle, sondern auch über Menschen wie Mustafa, einen muslimischen Sexarbeiter. Wir veröffentlichen hier einen Auszug.

Mustafa schenkt mir Wasser ein. Er nimmt mit aufrechter Körperspannung mir gegenüber Platz und überschlagt die Beine, während ich verschnupft und etwas erschöpft von meiner Rundreise wie ein Sack Couscous ihm gegenüber buckelig über meinem Notizbuch sitze. Mustafa ist BWL-Student, hat zwei Ausbildungen absolviert und spricht mehrere Sprachen: Deutsch, Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Englisch. Er ist in Deutschland in eine praktizierende muslimische Familie hineingeboren. Er gehört zur zweiten Nachkommenschaft der ersten sogenannten Gastarbeiter. Sein Großvater arbeitete im Bergbau und seine Eltern lernten sich in Deutschland kennen. Sein Vater kam ebenfalls zum Arbeiten nach Deutschland. Er war unter anderem in der Gastronomie tätig. Mustafa hat ein Ziel vor Augen. Er will in einen großen Kosmetikkonzern einsteigen und ein schönes Leben in Südfrankreich führen. Dafür lernt und arbeitet er. Wie jeder in der Ausbildungsphase geht auch er zur Finanzierung seines Studiums einer Nebenbeschäftigung nach. Die einen spülen Geschirr, er spült allenfalls seine Schminkutensilien. Als Transe, wie er sich selbst bezeichnet, arbeitet er im Escortbereich. Vom Burj-Khalifa-Architekten, über bekannte Gangsta-Rapper, Handwerker, unfreiwillig verheiratete junge Männer oder Imame bis Pädophile: "Ich habe alles schon bedient. Alles gesehen und gemacht!"

"Ich bin ich"

Bereits im Kindergartenalter sei ihm bewusst geworden, dass er etwas anders war als die anderen gleichaltrigen Jungen. Er spielte gerne mit Puppen. Auch seine Lippen malte er sich schon einmal mit Muttis Lippenstift an. Heute wird ihm bewusst, dass seine Großeltern trotz des fortgeschrittenen Alters und ihrer dörflichen Sozialisation in der Türkei viel aufgeschlossener waren als seine Eltern. Wenn er in Mamas statt in Papas Schuhen lief, gab es von seiner Mutter regelmäßig Schläge auf den Hintern. Seine Großmutter hingegen ließ ihn sogar mit Rock zum Kindergarten oder in die Grundschule gehen, wenn Mustafa danach war. Sie maß somit auch dem Gerede der anderen türkeistämmigen Familien im Umfeld keine Bedeutung bei. Auch sein Großvater, den er als konservativ beschreibt, teilte die Ansichten seiner Frau. Und mal ehrlich, auch bei verklemmten christlichen Deutschen ist es keine Selbstverständlichkeit, zu seinen homosexuellen Kindern oder Enkeln zu stehen.

Sineb El Masrar wurde 1981 als Tochter marokkanischer Einwanderer in Hannover geboren. Sie ist Gründerin des multikulturellen Frauenmagazins "Gazelle". Sie war von 2010–2013 Mitglied der Deutschen Islam-Konferenz. Zuletzt erschienen von ihr "Emanzipation im Islam" und "Muslim Girls". El Masrar lebt als freie Autorin in Berlin.

Als Mustafa sechs Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter lebten mit neuen Partnern zusammen. Dass eine heteronormative Anschauung nie das Maß aller Dinge im Leben eines Menschen sein muss, kann er heute auch an einem seiner Cousins und dessen Sohn beobachten. Der Junge habe auch diese Neigungen und sein Cousin verbiete es dem Kleinen rigoros. Mustafas Tante, die Mutter des Cousins, schaltet sich da allerdings entschieden ein. "Du kannst seine Psyche nicht so runterziehen. Du musst den Kleinen so leben lassen, wie er sich gerade fühlt", sagt sie über ihren Enkel und zu ihrem Sohn. Sein Cousin denke da allerdings anders, erklärt Mustafa. Er mache sich viele Gedanken darüber, was die Leute über ihn und seinen Sohn sagen könnten. Denn sein Sohn schminke sich ebenfalls gerne und bevorzuge explizit Mädchenkleidung. Viele Parallelen also, die Mustafa bei der neuen Generation beobachtet. Angesichts der Tatsache, dass laut Studien und Schätzungen der LSBTIQ-Anteil der Bevölkerung bei rund fünf bis zehn Prozent liegt, verwundert dieser Umstand nicht. Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund und auch Muslime selbstredend mit einbezogen.